Von mir ist nichts mehr zu erwarten.

Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Ich habe ein Gespräch belauscht. Ja, ich weiß schon, das tut man nicht, aber die Leitung war offen geblieben, und es ging um mich. Ich hab einfach nicht widerstehen können.

Es unterhielten sich meine beiden Cousinen. Sie sind eigentlich nicht meine beiden Cousinen, denn ich bin adoptiert, und irgendwie erscheint mir die familiäre Zuordnung deshalb falsch. Nur, in Ermangelung einer echten, fühlt sich diese seltsam für mich an.

Meine beiden Cousinen sind deutlich älter als ich.  Das sind schon so um die fünfzehn Jahre. Meine beiden Cousinen sind gestandene Frauen. Verheiratet, die statistischen zwei Kinder, ein Ehemann mit guter Karriere und großem Auto.

Für meine beiden Cousinen bin ich ein schwarzes Buch mit etlichen Siegeln, geschrieben in einer geheimen Sprache mit unsichtbarer Tinte. Und nichts, was ich versuche zu erklären, und ich muss immer alles erklären, kann ihnen meinen Lebensentwurf irgendwie normaler erscheinen lassen.

Seit ich krank geworden bin sind sich meine beiden Cousinen einig: von mir ist ohnehin nichts mehr zu erwarten. Sie versuchen auch nicht mehr, irgend einer Erklärung zu meinem merkwürdigen Leben zu folgen. Sie haben sich ihr Bild von mir gemacht und lassen es so.

Ich kann sie verstehen, meine beiden Cousinen. Mein Lebenslauf ist ein Lückentext, ein unvollständiger Satz mit drei Fragezeichen, eine mysteriöse Metapher des Schicksals. Und je mehr ich versuche, normal zu wirken, desto unnormaler erscheine ich. Meine Nachbarn wissen das und leben damit.

Ich hab mir das so nicht ausgesucht.  Hätte ich eine Wahl gehabt, ich wäre auch lieber normal geworden.  Es lebt sich einfach leichter,  wenn man nicht immer jeden Lebensumstand umständlich erklären muss. Aber ich hatte das nicht in der Hand.

Dabei ist es in Wahrheit gar nicht so kompliziert, wie es aussieht. Es braucht lediglich etwas guten Willen und ein wenig Interesse, um zu verstehen, wie ich dahin gekommen bin, wo ich jetzt stehe.

Sicherlich, ich stehe nicht gerne hier. Aber solange ich meine Bröckchensuppe auch selbst auslöffle? Und das tue ich. Jeden Tag. Leidenschaftlich.

Meine beiden Cousinen können mich nicht einfach löffeln lassen, sie müssen mein Leben episch durchkommentieren. Meine beiden Cousinen nutzen ihre gemeinsame Redezeit, um mein Leben zu beurteilen. Sie zeigen mit spitzem Finger auf Fehler und Schwächen in einem System, das sie gar nicht kennen. Denn es ist mein System,  und das hat noch nie nach irgendwelchen gesellschaftlich akzeptierten Regeln funktioniert. Mein System macht, was es will. Auch mit mir.

Meine beiden Cousinen einigen sich darauf, dass sie mir nicht helfen können. Sie beschließen, dass sich das auch nicht lohne, denn von mir sei ohnehin nichts mehr zu erwarten.

Ich hätte nicht mithören dürfen, ich weiß. Das ist nicht nur moralisch verwerflich sondern auch dumm. Denn so erfährt man, was man lieber nicht erfahren hätte.

Aber irgendwie war wohl von mir auch nichts anderes zu erwarten.

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