Es ist schon längst dunkle Nacht, der verhangene Himmel lässt kaum den Mond durchscheinen, und das einzige Licht kommt von elektrischen Quellen in der Nachbarschaft.
Im geliehenen Zimmer ist es stockfinster. Das einzige Geräusch sind hin und wieder vorbei bretternde Fahrzeuge auf dem Weg in die Stadt. Und das, was mein Kopf seit Stunden produziert, ein tiefes, unzufriedenes Gebrummel, ähnlich einer Bowlingkugel, die über den Holzboden rollt.
Ich sitze aufrecht im Bett, das nicht meines ist, und denke über diesen Tag nach. Über das, was außerhalb von mir passiert, Vorbereitungen auf die Einschulung im nächsten Jahr, Planung des nahenden Geburtstags, das Chaos im Haus, und wer es beseitigen könnte. Darüber, wie plötzlich eine alte Schulfreundin ganz hier in der Nähe sich zu einem Kaffee angemeldet hat, und wie wenig Interesse ich daran habe.
Sie hat mich nicht gemocht, die alte Schulfreundin. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, jemals näheren Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Ich war ihr wie den meisten braven Mädchen mit großen Ambitionen wohl einfach zu laut, zu schrill, zu anders.
Dabei wollte ich doch so gern dazu gehören. Zu diesen Mädchen, die sorgsam ihre Hausaufgaben erledigten und dunkelblaue Pullover mit V-Ausschnitt trugen. Ich wäre gerne weniger aufgefallen, hätte gern öfter geschwiegen und dadurch klüger gewirkt. Aber wenn ich nervös werde und unsicher, dann fange ich an zu plappern. Meist völlig zusammenhanglose Belanglosigkeiten, aber nie über das Wetter. Ich habe schließlich auch Prinzipien!
Meine Schulzeit war eine Kette langer Tage, die von Unsicherheit geprägt waren. Kein Wunder also, dass die anderen Mädchen nicht viel mit mir anfangen konnten. Ich nehme es ihnen ja auch gar nicht übel.
Interessanterweise ergaben aber sporadische Gespräche mit Schulkameradinnen, dass sie mich offenbar gar nicht mehr so in Erinnerung haben. Genau genommen scheinen sich die wenigsten an die vielen typisch zickigen Gemeinheiten an meine Adresse gar nicht mehr zu erinnern. Es ist aber auch schon ein Viertel Jahrhundert her. Das muss man fairerweise dazu sagen.
Besagte Schulfreundin entdeckte wohl eher zufällig, dass ich jetzt in ihrer Nähe wohne, und nimmt das zum Anlass, sich einzuladen. Einen konkreten Grund dafür habe ich ihr nicht geboten. Vielleicht ist sie einfach neugierig oder möchte alte Zeiten erinnern. Wo wir eigentlich kaum etwas mit einander zu tun hatten, sollen jetzt also gemeinsame Erinnerungen wach werden.
„Alte Gedanken“, so nennt der Chaosprinz Erinnerungen, und nie fand ich das passender als jetzt. Es sind alte Gedanken, die durch meinen Kopf rollen, an längst vergessene Tage aus einem völlig anderen Leben. Das Damals hat mit meinem Heute nicht mehr viel zu tun.
Zumindest wünsche ich mir, dass es so ist. Viel zu häufig fühle ich mich noch so unsicher wie damals, das kleine Mädchen mit dem runden Gesicht, unordentlich geflochtenen Zöpfen und abgetragener Kleidung. Das morgens als erste durch die Pforte ging und fast eine ganze Stunde vor Unterrichtsbeginn frierend in einer Ecke des Schulhofs auf kalten Steinen saß und darauf wartete, dass vielleicht irgendwann irgend jemand auftauchen würde, um sie aus diesem falschen Film zu holen.
Manchmal fühle ich mich immer noch, als sei ich im falschen Film. Aber immer öfter entdecke ich winzige Kleinigkeiten an mir, in denen ich diejenige erkennen kann, die ich immer sein wollte, und das ist doch auch schon mal was.
Wenn der Gedanke an diese Winzigkeiten vom Tage übrig bleibt, wenn es mir gelingt, das Rollen der Bowlingkugel zu übertönen, bevor der neue Tag anbricht, dann wird die Nacht ruhig und ich kann traumlos schlafen.