Und inmitten der Vorbereitungen auf den Geburtstag des Chaosprinzen starb meine Tante, und meine Schwester wollte es mir nicht sagen.
Ich habe viele Tanten. Bei uns zählen alle Cousins und Cousinen als Brüder und Schwestern, ganz egal, über wie viele Ecken. An wen man sich erinnert, der zählt zur engeren Familie.
Meine Tante war alt. Sie muss an die 90 geklopft haben. Sie war unverheiratet geblieben und lebte bei ihrer Schwester, meiner anderen Tante. Die letzten drei Jahre ihres Lebens war meine Tante völlig dement. Sie erkannte kaum mehr jemanden um sich herum und wusste die meiste Zeit über nicht, wo sie sich eigentlich befand. Meine Tante hat in den letzten Jahren ihres einsamen Lebens nur noch viel Arbeit gemacht.
Wenn man in einem so hohen Alter stirbt, dann ist kaum jemand mehr übrig, der um einen trauert. Für die Familie war ihr Tod abzusehen, und statt unseres Beileids tauschen wir Floskeln aus: Na ja, gut, Sie war eben auch alt und hatte doch ein gutes Leben, und irgendwie musste es doch auch so kommen. Schließlich ist das doch unausweichlich.
Meine Schwester konnte absehen, dass die Beerdigung auf den sechsten Geburtstag meines Sohnes fallen würde. Deshalb behielt sie es für sich.
Meine Tanten und Onkel sind alt. Zumindest die, denen vergönnt war, ein hohes Alter zu erreichen, und für meine Brüder und Schwestern ist das kein Segen. Ich weiß das, denn mich hat die Pflege meiner Mutter damals an den Rand meiner eigenen Existenz geführt. Jetzt steht meine Schwester vor dem Kräftebankrott. Eine gestorben, noch zwei zu pflegen. Seit Monaten schon kann S. keine drei Sätze mehr zusammenhängend sprechen, seit Monaten mache ich mir Sorgen um sie.
„Unsere Schwester ist eben starrsinnig“, sagt die Schwester M. aus Amerika gestern am Telefon. „Sie möchte einfach immer alles unter ihrer Kontrolle haben, da kann man ihr gar nicht helfen.“ Wochenlang hatte ich versucht, sie ans Telefon zu kriegen, um mit ihr über S. zu reden. Und darüber, dass S. seit mehr als drei Jahren neben ihrer eigenen auch noch M.s Mutter betreut. Und meine Tante.
„Die ist ja nun gestorben“, sagt M., und: „jetzt wird das ja hoffentlich alles leichter für S.“
Der Chaosprinz war nach einem wunderschönen, herrlich anstrengenden Geburtstag in tiefen Schlaf gefallen, als ich gestern S. anrief. „Du hättest morgen davon erfahren“, sagt sie und ist unendlich müde. „Du weißt, ich bin in zwei Stunden bei dir“, sage ich, aber ich weiß, dass sie das nicht erreicht. „Sie war eben alt“, sagt S.
Nach dem Telefonat bleibe ich noch ein wenig draußen sitzen. Die Nachtluft ist kühl und frisch, Wolken hängen den Himmel ab und verdunkeln das Mondlicht. Und ich nehme mir bewusst einen Moment lang die Zeit zu trauern.
Irgendwo habe ich noch das Kinderbild der Tanten, wie sie mit meiner Mutter auf einer kleinen Brücke iegendwo in Südserbien stehen. Das muss Mitte der 30er aufgenommen worden sein. Die drei Schwestern haben das Foto als rüstige Rentnerinnen 2000 noch einmal nachgestellt. Zwei von ihnen gibt es jetzt nicht mehr. Und die dritte…