Monatsarchiv: November 2017

Nullpunkt

Wenn morgens alles hektisch das Haus verlässt, wenn ich dann allein in der Stille des Dorfes zurückbleiben und die Reste des Frühstücks vom Boden gekratzt habe, das Haus in Leere gähnt, wie ein freier Platz, der gefüllt werden will und doch immer leer bleibt, wenn also alles erst einmal zur Ruhe kommt und die letzten Staubkörner sich gelegt haben, dann bleibt offene Zeit.

Völlig unbemerkt ist aus dem Sommer ein eisiger Winter geworden. Heute früh kratzten wir die Autoscheiben frei. Der Chaosprinz, warm eingepackt in Mamas Strick, bestand darauf, das Eis vom Kratzer zu lecken. Und man ließ ihn, dachte an den Straßendreck und die Reste toter Insekten und erinnerte sich daran, dass man es als Kind genauso gemacht hatte.

Eigentlich ist alles in Ordnung. Die meisten Dinge sind auf den Weg gebracht, manche Termine stehen noch aus, ich kratze meine Zuversicht zusammen für den Winter, der da kommt, und hoffe auf einen besinnlichen Jahresausklang.

Nur um dich sorge ich mich. Es sind die kurzen Nebensätze, die uns verraten, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Es ist die Schlaflosigkeit, die Unsicherheit in deinen Bewegungen, der Ausdruck in deinen Augen, wenn du kurz innehältst, um für den Bruchteil eines langen Tages tief durchzuatmen.

Das entgeht mir nicht. Ich weiß es nicht zu deuten, denn du schweigst, aber es entgeht mir nicht. Ich kann dir nicht hinter die Stirn schauen, ich werte die Vorzeichen aus, und vielleicht ist es, weil auch ich dich jetzt besser kenne, dass ich eine nicht vermutete Tiefe erkenne, hinter dem Vorhang der Schattenwelt. Ich nenne diesen Zustand „glaubhaft glücklich“ – und er trägt mich durch den Tag.

Wenn Platitüden behaupten, wir würden doch alle unser Päckchen zu tragen haben, dann ist da schon etwas Wahres dran. Es ist auch nicht das Gewicht, das darüber entscheidet, ob wir es tragen können oder unter der Last zusammenbrechen, sondern die Art, wie wir unser Päckchen schultern.

Das ist eine Frage des Vertrauens, und warst nicht du es, die mir sagte, dass es am schwierigsten sei, sich selbst zu vertrauen?

Es gibt Sätze, die hört man zum allerersten Mal. Dieser gehörte für mich dazu. Er offenbart eine ungeheure Ehrlichkeit mit sich selbst, das Bewusstsein, in einer Welt zu leben, die voller Ablenkung ist, und das Wissen darum, wie leicht man vom Weg abkommen und sich verirren kann. Ein bedeutsamer Satz, so klug und weise wie du, und so wichtig für mein eigenes Leben.  Manchmal denke ich, die Tiefe einer Freundschaft lässt sich daran messen, wie viele Sätze fallen, die man vorher noch nie gehört hat.

Du fragtest mich, was es war, das mich Kontakt zu dir aufnehmen ließ, und ich bin immer besser im Denken, wenn ich schreibe. Es war die Auswertung der Zeichen, die unbedeutenden, verräterischen Nebensätze und die Unsicherheit in deiner Bewegung, die mir zeigten, wie viel wir eigentlich gemeinsam haben. Deine Bereitschaft, diese Gemeinsamkeiten mit mir zu teilen. Und die Tiefe in deinen Augen, wenn du für einen Augenblick nur innehältst, um deinem Leben eine kurze Ruhepause zu gönnen.

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Mondbleich

Ist es eigentlich so, dass man tatsächlich immer nur dieselbe Seite des Mondes betrachtet? Die andere ist, so habe ich einmal gelesen, durch die Rotation stets von der Erde abgewandt.

Es gibt die Theorie, die der Erde abgewandte Seite sei bereits besiedelt worden. Von Michael Jackson und von Elvis, James Dean und Amy Winehouse.

Andere wiederum behaupten, die Menschheit sei in Wahrheit niemals auf dem Mond gelandet, und wir lebten alle in einer gigantischen Truman Show.

Was an Technik heute so alles möglich ist, da erscheint dieses Szenario gar nicht so abwegig. Vielleicht wird jede meiner Bewegungen aufgezeichnet und auf unterhaltsame 45 Minuten täglich zusammen geschnitten. Wie ich morgens dusche und den Kampf mit dem Kind ums Zähneputzen bestreite. Wie ich mich durch den Tag kämpfe, um abends dann hundemüde vor der Tagesschau einzuschlafen. Nicht, ohne vorher dem Kind die Zähnchen zu schrubben.

Muss das langweilig sein.

Manchmal denke ich, wir leben in der Matrix. Der Löffel, den gibt es also gar nicht. Wenn ich ihn biegen wollte, müsste ich mich selbst verbiegen. Doch ich bin nur bedingt biegsam. Genau genommen leide ich unter Steifigkeit im Denken, im Handeln und Fühlen. Biegsamkeit ist etwas für junge Eichen.

Vielleicht ich bin schon tot und habe es nur noch nicht gemerkt. Feinstofflich wandle ich durch die Welt und wundere mich, warum niemand grüßt. Jemand in meiner Umgebung kann tote Menschen sehen. Behauptet er zumindest, und bislang konnte ihm niemand das Gegenteil nachweisen.

Den Mond jedenfalls lässt das alles kalt. Er zeigt unbeeindruckt das immergleiche Gesicht. Ob ich hier unten sitze und im Fieber stumm meine Fragen in die Nacht schreie, das kümmert den Mond reichlich wenig.

42 ist auch heute die Antwort. 42 Tage bis Weihnachten. Und ich habe noch kein einziges Geschenk.

 

 

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42

Es gibt Tage, die sind komplett auf links gedreht.

Wenn es so langsam auf den Winter zu geht, klirrende Kälte von einem auf den anderen Tag, die mich daran erinnert, ich könnte dem Chaosprinzen mal wieder etwas Warmes stricken, dann verschwimmt mir der Kalender vor den Augen. Nur noch ein bisschen Warten, dann ist Weihnachten.

Nachts sinken die Temperaturen bedrohlich nah an die Null, „kalt ist es geworden“, stellt die Suppenfreundin verwundert fest, als habe sie etwas völlig anderes erwartet.

Manche Tage sind auf links gedreht. Dann beginnt der Geist den Sinn des Lebens zu hinterfragen und stellt die abenteuerlichsten Theorien auf.

Ich könnte glatt den Aluhut nehmen, bei so vielen verschwurbelten Hypothesen über unser Dasein, die mein Verstand heute produziert hat.

Fest steht, dass die Platitüden meiner Jugend nicht mehr funktionieren. Das liegt vielleich daran, dass sich für jeden noch so schönen Sinnspruch mindestens zwei finden, die das genaue Gegenteil behaupten.

Die absolute Wahrheit scheint es also nicht zu geben, und ich denke, D.Adams kam ihr mit 42 schon ziemlich nah.

Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären. Woher wir kommen. Wohin wir gehen. Und warum wir eigentlich hier sind.

Wir sind wohl einfach, die meisten von uns sowieso ohne jeden Sinn. Wir verteilen Fußstapfen und Handabdrücke auf einem langsam seine Bahn ziehenden Planeten. Und das muss mir für heute einfach reichen.

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Abgang

Er sagte, er möchte auf der Bühne sterben. Sie war nicht überrascht, hat er sein Leben doch auch auf der Bühne gelebt.

Er hatte sie nach Jahren überraschend aufgesucht, kurz bevor es zu Ende mit ihm ging. Hatte sie gebeten, bei ihm zu bleiben. Seine Angst vor dem Sterben. Welch eine Zumutung, sie darum zu bitten. Er wird gehen und lässt sie zurück – in tiefer Betroffenheit und reicher um eine traumatische Erfahrung.

Sein Leben war wie jedes, ein Stolpern und Aufrappeln, das übliche Auf und Ab, angefüllt mit passenden lateinischen Zitaten für alle denkbaren Gelegenheiten. Kein einfacher Mann. Mehr so die komplexe Persönlichkeit eines Künstlers ohne nennenswerte Kunst.

Sie hätte ihm diese Bitte ja abschlagen können. Zeit Lebens schlagen wir Bitten unserer Mitmenschen aus. Selbst dann, wenn wir nicht „Nein“ sagen können. Sie hätte sich der Situation unter irgend einem klug erdachten Vorwand  entziehen können, seine Zeit war schließlich terminiert. Aber Sterbenden  schlägt man keine Bitte mehr aus, und darauf hatte er gebaut. Der letzte Wille wird respektiert, und ist er noch so unverschämt.

Wo sterben eigentlich Tiere? Auf dem Spaziergang durch den Wald müsste man allerlei Leichen begegnen. Aber abgesehen von Unfallopfern sieht man selten einen toten Hirsch, Igel oder Hasen. Es müsste tote Vögel regnen bei der Artenvielfalt, die über den Himmel fliegt. Und wo begraben Meerestiere eigentlich ihre Toten?

Jedenfalls blieb sie bei ihm. Sie brachte ihn sogar auf die Bühne des örtlichen Karnevallsvereins. Es war tiefste Nacht, der gute Mensch, der ihnen das Vereinshaus aufschloss, hatte noch seinen Schlafanzug an. Seine Jacke achtlos darüber gezogen, denn es war kalt. Er konnte nicht mehr stehen, deshalb brachten sie ihm einen Stuhl. Ein Spot erleuchtete sein hässlich verzerrtes, gelblich verfärbtes Gesicht. Er begann zu rezitieren.

Wie friedlich einem die Welt erscheint, nachts, wenn das Alltagsrauschen langsam abebbt, das Dorf zur Ruhe kommt. In der Nachbarschaft hat jemand den Kamin angezündet, feiner Duft von verbrennendem Holz füllt die Luft. Die Straßen sind leer und doch alle paar Schritte beleuchtet, die Kegel warmen Lichts überschneiden sich, und über allem scheint ein barmherziger Mond. Wie still es doch wird.

Natürlich ergab es keinen Sinn mehr, was er rezitierte. Vereinzelte Textfetzen längst vergessener Inszenierungen drittklassiger Schauspielhäuser, die ihm jetzt wie Seifenblasen aus seiner Erinnerung auftauchten. Er aber gab seine letzte Vorstellung. Auf der ausgetretenen Holzbühne eines lokalen Karnevallsvereins vor einem leeren Saal.

Sie lauschte ergriffen. Viel später würde sie sich fragen, weshalb, von allen Menschen, die ihn kannten und bewunderten, er ausgerechnet sie auserwählt hatte. Jetzt ging es ihr aber nicht darum. Auch nicht um das, was er sagte. Wie er es sagte. Sie sah einem Sterbenden dabei zu, wie er sich seinen letzten Wunsch erfüllte. Sie war tief bewegt und ein wenig stolz darauf, dass ihr die Idee mit der Vereinsbühne gekommen war.

Manchmal lässt der Tod auf sich warten. Selten lässt er Manchen sogar wieder von der Schippe springen. Nicht so bei ihm. Mitten im Satz brach er zusammen. Er sackte einfach zu Boden, wie eine Marionetten, der man die Strippen durchgeschnitten hat. Dumpf das Geräusch, als sein Kopf auf die Holzdielen krachte.

Wir beerdigen unsere Toten nicht selbst. Wir heben kein Loch irgendwo aus, wickeln sie nicht in Leichentücher,  bauen keine Scheiterhaufen. Die fachgerechte Entsorgung eines toten Körpers übernehmen Menschen, denen der Tod ihr täglich Brot ist.

Sie eilte zu ihm, aber er war vermutlich schon tot, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Vorsichtig bettete sie seinen Kopf auf ihrem Schoß. Tränen liefen ihr über das Gesicht und tropften auf sein dünnes Haar. Der gute Mensch im Schlafanzug rief den Rettungswagen.

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