Abgang

Er sagte, er möchte auf der Bühne sterben. Sie war nicht überrascht, hat er sein Leben doch auch auf der Bühne gelebt.

Er hatte sie nach Jahren überraschend aufgesucht, kurz bevor es zu Ende mit ihm ging. Hatte sie gebeten, bei ihm zu bleiben. Seine Angst vor dem Sterben. Welch eine Zumutung, sie darum zu bitten. Er wird gehen und lässt sie zurück – in tiefer Betroffenheit und reicher um eine traumatische Erfahrung.

Sein Leben war wie jedes, ein Stolpern und Aufrappeln, das übliche Auf und Ab, angefüllt mit passenden lateinischen Zitaten für alle denkbaren Gelegenheiten. Kein einfacher Mann. Mehr so die komplexe Persönlichkeit eines Künstlers ohne nennenswerte Kunst.

Sie hätte ihm diese Bitte ja abschlagen können. Zeit Lebens schlagen wir Bitten unserer Mitmenschen aus. Selbst dann, wenn wir nicht „Nein“ sagen können. Sie hätte sich der Situation unter irgend einem klug erdachten Vorwand  entziehen können, seine Zeit war schließlich terminiert. Aber Sterbenden  schlägt man keine Bitte mehr aus, und darauf hatte er gebaut. Der letzte Wille wird respektiert, und ist er noch so unverschämt.

Wo sterben eigentlich Tiere? Auf dem Spaziergang durch den Wald müsste man allerlei Leichen begegnen. Aber abgesehen von Unfallopfern sieht man selten einen toten Hirsch, Igel oder Hasen. Es müsste tote Vögel regnen bei der Artenvielfalt, die über den Himmel fliegt. Und wo begraben Meerestiere eigentlich ihre Toten?

Jedenfalls blieb sie bei ihm. Sie brachte ihn sogar auf die Bühne des örtlichen Karnevallsvereins. Es war tiefste Nacht, der gute Mensch, der ihnen das Vereinshaus aufschloss, hatte noch seinen Schlafanzug an. Seine Jacke achtlos darüber gezogen, denn es war kalt. Er konnte nicht mehr stehen, deshalb brachten sie ihm einen Stuhl. Ein Spot erleuchtete sein hässlich verzerrtes, gelblich verfärbtes Gesicht. Er begann zu rezitieren.

Wie friedlich einem die Welt erscheint, nachts, wenn das Alltagsrauschen langsam abebbt, das Dorf zur Ruhe kommt. In der Nachbarschaft hat jemand den Kamin angezündet, feiner Duft von verbrennendem Holz füllt die Luft. Die Straßen sind leer und doch alle paar Schritte beleuchtet, die Kegel warmen Lichts überschneiden sich, und über allem scheint ein barmherziger Mond. Wie still es doch wird.

Natürlich ergab es keinen Sinn mehr, was er rezitierte. Vereinzelte Textfetzen längst vergessener Inszenierungen drittklassiger Schauspielhäuser, die ihm jetzt wie Seifenblasen aus seiner Erinnerung auftauchten. Er aber gab seine letzte Vorstellung. Auf der ausgetretenen Holzbühne eines lokalen Karnevallsvereins vor einem leeren Saal.

Sie lauschte ergriffen. Viel später würde sie sich fragen, weshalb, von allen Menschen, die ihn kannten und bewunderten, er ausgerechnet sie auserwählt hatte. Jetzt ging es ihr aber nicht darum. Auch nicht um das, was er sagte. Wie er es sagte. Sie sah einem Sterbenden dabei zu, wie er sich seinen letzten Wunsch erfüllte. Sie war tief bewegt und ein wenig stolz darauf, dass ihr die Idee mit der Vereinsbühne gekommen war.

Manchmal lässt der Tod auf sich warten. Selten lässt er Manchen sogar wieder von der Schippe springen. Nicht so bei ihm. Mitten im Satz brach er zusammen. Er sackte einfach zu Boden, wie eine Marionetten, der man die Strippen durchgeschnitten hat. Dumpf das Geräusch, als sein Kopf auf die Holzdielen krachte.

Wir beerdigen unsere Toten nicht selbst. Wir heben kein Loch irgendwo aus, wickeln sie nicht in Leichentücher,  bauen keine Scheiterhaufen. Die fachgerechte Entsorgung eines toten Körpers übernehmen Menschen, denen der Tod ihr täglich Brot ist.

Sie eilte zu ihm, aber er war vermutlich schon tot, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Vorsichtig bettete sie seinen Kopf auf ihrem Schoß. Tränen liefen ihr über das Gesicht und tropften auf sein dünnes Haar. Der gute Mensch im Schlafanzug rief den Rettungswagen.

Werbung

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Uncategorized

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s