Stiller Morgen

Wenn der Chaosprinz morgens aus dem Haus geht, wird es still.
Es ist noch so dunkel, nur langsam kriecht Licht über den Ölberg, der Himmel ist gemalt. Wenn er geht, kommt das einzige Geräusch vom Kühlschrank und einer Uhr, die irgendwo ihre Sekunden abtickt. Das strahlende Weiß des Monitors brennt in meinen Augen.

Wenn er geht, wird es ruhig. Es ist wie in diesem Lied, es scheint dann keine Sonne, wenn er nicht da ist, und ich falle in eine Starre. Wie Spinnen, die in den Ecken hocken, bewegungslos auf ihre Beute warten, ihnen wird nicht langweilig. Ich hätte, hätte so viel zu tun. Es müsste, müsste so viel erledigt werden. Doch wenn er weg ist, dann warte ich, mir wird nicht langweilig. Um mich herum bewegt sich die Welt. Der Kater stolziert selbstbewusst aus dem Keller, weil die Suppenfreundin mit dem Hund unterwegs ist. Der erste Vogel fliegt am Fenster vorbei.
Als sei ich nicht, wenn er weg ist. Als werde ich erst wieder, wenn er mich braucht.
Was war ich, bevor der Chaosprinz über mein Leben brach. Ziellos ließ ich die Straßen links und rechts an mir vorbeiziehen. Ich passierte Plätze und Gebäude und fand doch keinen Ort, mich für einen Moment auszuruhen. In der Masse meiner Generation trieb ich durch die Schule und das Studium, nahm eine Arbeit auf, lebte an meinem Leben vorbei. Am Ende einer dieser Straßen wartete er geduldig auf mich. Er wusste, ich würde kommen, und ich wusste es auch.

Wenn der Chaosprinz morgens zur Schule geht, gehe ich in Gedanken jeden Schritt mit. Ich weiß, wie lange er braucht, um den Schulhof zu erreichen, welchen Gang er zur Treppe und welche Treppe er zum Klassenzimmer nehmen muss. Wenn er in der Klasse sitzt und es klingelt, stelle ich mir vor, wie er seinen Ranzen öffnet und seine Schulbücher hervorholt. In der ersten Stunde hat er Mathe. Heute machen sie die schriftliche Division. Da macht ihm keiner was vor.

Ich sehe mich in der Klasse sitzen, unsicher, weil alle anderen besser zu sein scheinen als ich. Ich sehe mich und fühle mich wie ein Fremdkörper in einer homogenen Gruppe. Alle anderen scheinen zu wissen, warum sie hier sind. Sie sind sich ihrer sicher. Einer erzählt von seinem Wochenendausflug an den See. An diesem See war ein anderer auch schon. Ich möchte cool wirken, deshalb verschränke ich die Arme vor der Brust. Und gegen die Worte, die auf mich einprasseln wie kleine Kieselsteine. Vorne steht ein Püppchen in einem schönen Kleid und zeichnet einen lächelnden Schmetterling an die Tafel. Ich schaue an mir herunter. Die Jeans schmutzig, auf dem Sweater ist ein Fleck. Meine Zöpfe haben sich schon auf dem Schulweg fast gelöst, das Haar zu bändigen bleibt eine morgendliche Herausforderung. Mein Heft hat ein Eselsohr, das Buch ist nicht eingeschlagen. Mein Ranzen ist von stechendem Blau und nicht von Scout.

Zur Pause essen alle ihr mitgebrachtes Frühstück. Dazu gibt es wahlweise Kakao oder Milch, die Trinkpäckchen kosten eine Mark fünfzig in der Woche. Ein Mädchen hat ihre Brotdose neben mich auf die Schulbank gelegt. Sie ist rosa mit bunten Punkten. Ich starre auf meine Banane. Ein Buch hat sie an der Seite eingedrückt. Gelblich brauner Matsch dringt wie Eiter aus dem Riss. Lieber hungrig bleiben. Auf der Fensterbank stehen ein paar bunte Blümchen aus Papier. Sie verlassen den Klassenraum nie, bleiben auch nach Schulschluss einsam auf der Fensterbank stehen. Ich finde das traurig. Auf meiner kleinen Schiefertafel stehen noch die Buchstaben vom Vortag. Eine Rüge dafür, dass ich sie nicht weggewischt habe. Es ist nur ein Handgriff, dann sind die Buchstaben weg. Die Rüge bleibt für immer bei mir.

Es war so schwer, groß zu werden. Zu wachsen und zu sich selbst zu werden. Immer so anders, so sonderbar, so eigenartig. So viel Verletzung, so viel Traurigkeit und viel zu wenig geweinte Tränen, die jetzt die Kehle füllen wie einen Kelch.

Der Chaosprinz ist da ganz anders, denke ich stolz, der gehört sich selbst.

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2 Kommentare

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2 Antworten zu “Stiller Morgen

  1. Wie schön das ist. Wie viel du richtig gemacht haben musst.

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