Entfremdung

Die Tage werden sichtbar länger. Morgens ist es jetzt nicht mehr dunkel. Die Suppenfreundin hat einen Platten und ist mit dem ADAC Engel unterwegs zur nächsten Werkstatt. Der Hund und ich sind zu Hause. Irgendwo ist noch der Kater, ich habe ihn empört maunzen hören.

Seit zwei Jahren habe ich das Haus kaum verlassen. Die Zeit hat tiefe Furchen gezogen. In den letzten Wochen fiel es mir besonders stark auf, wie wenig ich noch ein Teil dieser Welt bin. Wie fremd mir alles draußen geworden ist.

Ich kämpfe damit, es in Worte zu fassen, dieses Gefühl der zunehmenden Entfremdung. Schreiben als Prozess, nochmal einen Fuß auf dem Boden zu setzen. Irgendwo anzukommen. Mich selbst zu verorten und zu verankern.

Ich war noch nie die Gesellige. Während andere meines Alters sich in Clubs und Kneipen getroffen haben, saß ich lieber zu Hause vor einem guten Buch. Meine Konzertbesuche lassen sich an einer Hand abzählen.
Einsamkeit als beste Freundin. Stille über mir wie ein Rettungsschirm.
Manchmal schaffte jemand, mich zu einer Fete zu überreden, dann ging ich hin. Deplatziert drückte ich mich in der schmalen Studentenküche herum und starrte auf die Berge schmutzigen Geschirrs, während laute Musik aus dem Wohnzimmer zu mir drang. Vielleicht liegt es daran, dass ich nie Alkohol getrunken habe. Es ist, als sei ich alt gewesen, noch bevor ich erwachsen wurde.

Ich bin seit jeher eine Einzelgängerin, daran habe ich mich gewöhnt. Eigentlich verwunderlich, dass ich überhaupt mit jemandem zusammenlebe. Aber auch, wenn es nicht die klassische Familie ist, so habe ich doch jemanden gefunden, dem ich vertrauen kann. Die Suppenfreundin würde jetzt widersprechen, denn es macht gar nicht den Eindruck, als würde ich ihr vertrauen. Und dennoch ist es der höchste Grad der Vertrautheit, zu dem ich überhaupt fähig bin. Geht sie aus dem Haus, prüfe ich, ob alle Türen und Fenster fest verschlossen sind. Klingelt jemand an der Haustür, werde ich vermutlich nicht öffnen.

Früher habe ich mich nur bei Dunkelheit nicht mehr sicher gefühlt. Sobald es dämmert, schalte ich hektisch alle Lichter an. Wo das nicht möglich ist, versuche ich, mich in der Dunkelheit zu verstecken, ein unbewegter, stiller Teil von ihr zu werden. Die Angst vor dem, was man spürt, wenn das Auge nichts mehr sieht, habe ich nie überwunden. Heute fürchte ich mich zunehmend auch bei Tageslicht. Die Angst ist so groß, sie verschluckt alles um mich herum. Als sei nichts mehr selbstverständlich möglich.

Antworten lassen sich leichter finden, wenn man die Fragen kennt. Und so verbringe ich viel Zeit damit, mir die richtigen Fragen zu stellen. Aber auch die lassen sich in der Enge meines Selbst nicht mehr so leicht finden.
Ich dachte immer, es fiele mir leicht, Worte zu finden. Mich auszudrücken und zu beschreiben, was ich empfinde. Mich selbst zu erreichen. Ich dachte immer, dazu müsse ich nur ehrlich sein. Und mutig.
Aber es ist, als würde ich einem Luftballon hinterherjagen, den der Wind sich zum Spiel ausgesucht hat.
Kaum glaube ich, die Kordel zu fassen, kommt die nächste Böe und treibt ihn davon.
Ein weiteres Stück weg.

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