schhht…

Draußen wird es heller und wärmer und die ersten Nachbarn haben am Wochenende schon ihre Rasen gemäht. Durch die Fenster kann ich sehen, wie das Gras saftiger und grüner wird, und fühle die Erinnerung an Grashalme unter meinen nackten Füßen. Die Sonne scheint jetzt fast den ganzen Tag ins Zimmer und heizt es auf. Meine Strickjacke brauche ich bald nicht mehr.

Zu einer für sie unüblichen Zeit ruft meine Schwester an. Es ist niemand gestorben, sagt sie, ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.

Auf diese Frage sollte man antworten können. Manchmal mit einer Floskel, weil die Wahrheit unpassend wäre. Manchmal abwiegelnd – so halb gelogen- damit man keine schlechte Laune verbreitet. Und manchmal kann man auch ruhig weinen, bei einem Glas Rotwein im Halbdunkel. Jedenfalls sollte man sie beantworten können.

Das kann ich aber nicht. Seit einigen Tagen ist alles verschwunden. Als habe jemand den Schwamm genommen und die Tafel leergewischt. Ich finde nichts mehr in mir. Da ist eine Erinnerung an die Gefühle und Gedanken, aber es ist nur eine zarte Spur. Ein leiser Hauch davon, wie ein sich rasch verflüchtigender Duft, der die Erinnerung weiterträgt, noch bevor man sie klar zu fassen kriegt.

Als gäbe es mich nicht. Als hätte ich mich vor Jahren schon aufgelöst und es nur nicht gemerkt. Als sei ich schon lange im Meer der kollektiven Belanglosigkeiten ersoffen und zwischen Kunst und Krempel hängen geblieben wie eine alte Porzellanpuppe, deren Arm angeschlagen ist und die man längst weggeworfen hätte, hätte Oma nicht so sehr an ihr gehangen.

Also schweige ich und meine Schwester erzählt: von einer bevorstehenden Hochzeit, zu der sie fliegen möchte nach Amerika. Wer dort wen heiratet. Und warum. Als würde die Liebe nicht mehr reichen. Mein Blick fängt die Scheinwerferstrahlen des Nachbarn von gegenüber auf, der gerade einparkt. Der Hund bellt, das macht ihn wahnsinnig. Und weil ich immer noch schweige, erzählt meine Schwester weiter: bei wem sie wohnen wird und in welchem Stadtteil die Wohnung liegt in Amerika. Was sie sich zur Hochzeit anzieht. Und warum. Als würde mich das interessieren.

Die Porzellanpuppe hieß Maia. Sie war über hundertfünfzig Jahre alt, konnte ihre Glieder bewegen und hatte echtes, menschliches Haar. Sie stand lange Jahre eingestaubt im Keller und sah mich vorwurfsvoll an, wenn ich Kartoffeln holte. Bis irgendwann einmal auf irgendeinem Flohmarkt irgendein Händler glaubte, ihren Wert erkannt zu haben, und sie einfach mitnahm. Als hätte es sie nie gegeben.

Ich habe dich nie gefragt, unterbreche ich meine Schwester im Satz, warum du damals, als die Bombardierung Serbiens begann, nicht in Italien geblieben bist. Weshalb hast du verzweifelt eine Route gesucht, um irgendwie nach Belgrad zu kommen, während alle anderen verzweifelt versuchten, es irgendwie zu verlassen?

Es war mein Zuhause, sagt meine Schwester, meine Familie und meine Freunde. Meine Arbeit und meine Stadt. Ich bin zwischen ihren Hochhausblocks aufgewachsen, habe in ihren Parks gespielt und bin durch ihre Straßen zur Schule gelaufen. In ihren Clubs habe ich bis zum Sonnenaufgang getanzt und an ihren Flussufern meinen ersten Kuss bekommen.

Eine Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts. Es ist ein warmer Tag im April. Aus dem Sprung im Asphalt blüht ein einzelner Löwenzahn. Eine Frau mit einem zotteligen Hund an der Leine bemerkt nicht, wie die Schatten der Blätter an den Bäumen ihr Muster auf den Hals zeichnen, während sie geht. Ein Mann in einem langen, hellen Mantel und einer Aktentasche, den Hut zum Schutz vor den vorbeifahrenden Autos tief in die Stirn gezogen, eilt mit einem eleganten Hüpfer über die Straße. Eine Schar gesichtsloser Kinder läuft lärmend vom Französischunterricht nach Hause, verschwitzt und derangiert vom angestrengten Lernen. In jeder Straße wiederholen sich die Geschichten, unbemerkt von uns. Aber irgendwo freut sich gerade einer über seinen Gewinn, während ein anderer um seinen Verlust weint.

Heute, sagt meine Schwester, ist Belgrad nicht mehr so wie es einmal war. Du würdest es kaum wiedererkennen. Die Stadt hat sich seit dem Krieg verändert.
Fast so, als hätte es sie nie gegeben.

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