Was ich in den letzten Monaten, seit ich wieder regelmäßig den Blog führe, sehr zu schätzen gelernt habe, sind die vielen Anregungen, die man von den anderen Bloggern bekommt. Ob es Fragen sind, die man sich stellt, Worte des Tages oder auch nur Miniaturkunstwerke der Sprache – all das entwickelt eine Eigendynamik in meinem Denken, die über den Tag ihre Kreise zieht, manchmal sogar über den Tag hinweg in den nächsten.
Hängen geblieben bin ich diesmal an der Überlegung, was es bedeutet, eine Tochter zu sein.
Genaugenommen geht es nicht um die typische Rollenverteilung, was gemeinhin von Töchtern oder Söhnen erwartet wird. Das unterschied sich früher vermutlich viel stärker als heute, aber ich bin sicher, dass Söhne und Töchter einer Familie dazu immer noch viel zu sagen hätten. Genauso könnten Einzelkinder davon berichten, welche Erwartungen an sie gestellt werden, ganz unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Es geht wohl vielmehr, so habe ich es verstanden, um das ganz persönliche Erleben, eine Tochter zu sein. Für mich ist das eng geknüpft mit den Erwartungen und Ansprüchen meiner Mutter, denn mein Vater hat schon früh das Haus verlassen und hielt fortan nicht einmal mehr Kontakt.
Meine Mutter hatte vor mir schon mal eine Tochter. Sie war drei Jahre vor mir am gleichen Tag geboren und starb an ihrem zweiten Geburtstag. Ein letztes Bild zeigt sie mit fiebrigem Gesicht vor einer Torte mit zwei Kerzen auf dem Arm meiner Mutter.
Meine Mutter hat diesen Schmerz nie überwunden. An jedem meiner Geburtstage dachte sie an ihre verstorbene Tochter, betete für sie und zündete eine Kerze für sie vor dem Hausaltar an. Ich lernte diesen Schmerz des Verlusts von ihr über die Jahre schon sehr früh. Er brannte sich mir ein wie ein Stempel, eine erlernte Traurigkeit. Ich lernte noch etwas, aber das habe ich erst viele Jahre später begriffen. Da war meine Mutter schon tot, und ich konnte es nicht mehr mit ihr aussprechen. Dazu komme ich später.
Die erste Tochter meiner Mutter hieß Katharina, nach der mütterlichen Großmutter. Sie starben im gleichen Jahr, die Großmutter im Januar, die Tochter im Dezember. Es muss ein furchtbares Jahr für meine Mutter gewesen sein. Als würde alles Leben auf der Erde enden. Als ob sich ein schwarzes Loch aufgetan hätte, das jetzt die ganze Luft zum Atmen unbarmherzig absaugt. Ein langsames, qualvolles Ersticken, das kein Ende findet.
Ein Jahr nach Katharinas Tod wurde ich geboren, irgendwo im Süden Europas. Man erzählt sich, dass ich lange unbemerkt geblieben bin. Als meine biologische Mutter erkannte, dass sie schwanger war, reiste sie in die Hauptstadt und versuchte dort, mich abtreiben zu lassen. Das ging schief und ich wurde viel zu früh und mit nur 870 gr geboren. Die Legende sagt, dass ich nie einen Namen erhalten habe. Auf der Geburtsurkunde trug man einfach unter Namen die Worte „gibt es nicht“ ein. Ein Beamter hielt die Leerstellen zwischen den Worten für einen Fehler und zog die Worte zusammen. So entstand mein Vorname, ein Jahr später wurde ich darauf getauft.
Die folgenden Monate überlebte ich nur deshalb, weil meine Mutter zufällig von mir erfahren hatte und mich adoptieren wollte. Ihr Vater, ein angesehener Arzt und Transfusionsmediziner, war aus gleich mehreren Gründen dagegen. Er formulierte seine Bedenken in einem Brief, den ich bis heute aufgehoben habe: zum einen war Adoption nicht unbedingt gesellschaftsfähig, als ich geboren wurde, und in den Kreisen, in denen meine Familie verkehrte, schon mal gar nicht. Zum anderen sorgte er sich sehr um seine eigene Tochter, weil die Wahrscheinlichkeit sehr hoch war, dass sie nach ihrer ersten Tochter, nun auch die zweite, adoptierte vielleicht auch verlieren würde. Meine Mutter setzte ihren Kopf durch und ihr Vater tat daraufhin das Einzige, was er tun konnte, um zu helfen: er gab mir täglich Bluttransfusionen.
Ich glaube, ich wäre damals lieber gestorben. Natürlich kann ich mich nicht daran erinnern, aber diese Zeit hat tiefe Furchen in meinem Leben hinterlassen und eine gewisse fatalistische Lebenseinstellung geprägt, die ich mir nur so erklären kann. Sechs Monate lag ich nach der Geburt im Brutkasten des örtlichen Waisenheims und bekam täglich Bluttransfusionen und Medikamenten. Weitere sechs Monate dauerte es, bis das Adoptionsverfahren abgeschlossen war, dann durfte ich endlich in mein neues Zuhause. Meine Eltern waren bei meiner Ankunft wohl reichlich entsetzt: mit über einem Jahr konnte ich weder den Kopf selbständig halten noch mich eigenständig drehen. Ich schien weit zurück, war aber im Groben gesund.
Ich spreche ganz absichtlich von Geschichten und Legenden und nicht von Tatsachen. Denn während um meine Adoption nie ein Geheimnis gemacht worden war, wurden die Umstände meiner Geburt und der Überlebenskampf danach zu einem Mysterium meines Lebens. Nach und nach trug ich von Bekannten und Verwandten Informationen darüber zusammen und setzte mir in meinen Teenagerjahren in den Kopf, meine leibliche Mutter finden zu wollen. Eine Tante verriet mir damals, weshalb meine biologische Mutter mich weggegeben hatte: sie war minderjährig gewesen und ich das Ergebnis einer Vergewaltigung. Danach suchte ich nicht mehr. Das Einzige, was ich von ihr weiß, ist, dass sie dunkles Haar hatte.
So weit reichen sie also, die Erkenntnisse zu meiner Entstehung, zu meinem Dasein auf diesem Planeten, das von niemandem so vorgesehen war. Wenn du das jemandem erzählst, glaubt er, du wolltest dich nur wichtig tun. In der Grundschule erwähnte ich einmal, ich sei adoptiert, und wurde ausgelacht. Danach habe ich nichts mehr erzählt. In meinen Klosterschuljahren dachte ich insgeheim lange, Gott müsse einen ganz besonderen Plan mit mir haben, sonst hätte ich ja nicht überlebt. Dieser Gedanke wurde zu einem großen Trost über die schlimmen Jahre meines Erwachsenwerdens. Irgendwann kam aber dann doch der Zweifel, ob ich nicht gerade deshalb mehr aus meinem Leben hätte machen sollen.
Was hat das jetzt mit meinem Tochter Sein zu tun? Ich möchte den Kreis schließen, wenn auch das Thema nicht abgeschlossen ist. Das wird es vermutlich niemals sein.
Heute glaube ich folgendes: meine Mutter wollte damals ihre Tochter durch mich ersetzen. Das bedeutet nicht, dass sie mich nicht geliebt hätte, oh nein, sie hat mich unendlich geliebt. Es bedeutet nur, dass ich in der ständigen Konkurrenz um ihr leibliches Kind niemals mithalten konnte. Ich war das Ersatzkind, das nie gut genug sein würde. Gleichzeitig war meine Mutter nicht meine biologische Mutter. Das bedeutet nicht, dass ich sie nicht geliebt hätte, oh nein, ganz gewiss nicht. Meine Mutter trat aber so ebenfalls in Konkurrenz. Beide traten wir nun also an gegen eine idealisierte Unbekannte: Ich gegen eine Tochter, die nie älter als Zwei werden durfte, und sie gegen eine Mutter, die ich nie kennengelernt hatte.
Was für eine grausame Erkenntnis.
Nein, ernsthaft, was für eine grausame, furchtbare Erkenntnis, dass wir einander niemals gereicht haben, weil die natürliche Ordnung des Universums für uns beide etwas völlig anderes vorgesehen hatte. Vielleicht sieht es so aus, als wäre es doch so einfach gewesen, sich auf einander einzulassen, aber das war es eben nicht. Welche unfassbare Last, dass ich das erst begriffen hatte, als es zu spät war, als meine Mutter tot und eine Aussprache mit ihr nicht mehr möglich war.
Und so war, ist und bleibt das der größte Schmerz meines Lebens, der sich durchzieht wie ein blutiger Fluss. Ich verarbeite diese Gedanken unablässig in meinem Schreiben, forme die Gefühle zu Worten, erkenne, dass sie unzureichend sind, streiche und formuliere neu. Aber ich erfahre keine Katharsis, keine Erlösung, dieser Schmerz sitzt so tief wie der Stachel einer Palme mitten durch mein Herz.
In diesem Schmerz, in dieser unendlichen, bodenlosen Traurigkeit hat sich nur der eine gute Gedanke erhalten, und es wäre nicht vollständig, wenn ich den nicht am Schluss auch noch erwähnen würde. Immer noch, nein, jetzt wieder neu und viel stärker als früher glaube ich, dass Gott einen Plan mit mir hatte, sonst hätte ich nicht überlebt. Dieser Plan, der Sinn meines Daseins, der Grund, weshalb ich morgens beim Aufstehen meine Augen öffne, obwohl ich abends beim Einschlafen denke, dass ich das nie wieder tun möchte, der Hintergrund meiner Geschichte und der Ansporn, sie weiterzuerzählen, all dies findet seinen höchsten Gipfel im Wunder meines Chaosprinzen.
Aber das wird er nie erfahren.