Gott und die Welt

Der Chaosprinz hat Stress mit seiner neuen Religionslehrerin. Er sagt, sie lasse sie in Religion immer nur nach Vordruck malen, während sie vorne irgend etwas über Gott und die Welt erzählt. Und tatsächlich finde ich in seinem Ranzen die immergleiche Friedenstaube, die er wahlweise mal bunt, mal gemustert und mal in Grautönen ausmalt. Manchen Friedenstauben hat er ein paar Gefährten dazu gemalt, andere lassen Nuklearbomben auf Hochhäuser fallen, von deren Dächern Strichmännchen mit Panzerabwehrraketen auf sie schießen.

Es ist anstrengend dieser Tage. Nächste Woche fährt der Chaosprinz zum ersten Mal für drei Tage auf Klassenfahrt. Als wäre das nicht ausreichend Grund zur Panik, sind bereits Wochen zuvor besondere Vorkehrungen dafür zu treffen. Während nun auch in Deutschland die Pandemiemaßnahmen zurückgefahren werden und in den Schulen keine Maskenpflicht mehr gilt, haben sie die vierten Klassen dazu verdonnert, sich eine Woche vor der Klassenfahrt jeden Tag im Bürgertestzentrum testen zu lassen. Das Testergebnis ist auszudrucken und dem Kind am Folgetag mitzugeben. Ein Wunder, dass es im Land der dreifach ausgefertigten Bürokratie nicht schon viel früher zu Papierknappheit gekommen ist.

Wie heißt deine Religionslehrerin denn, frage ich den Chaosprinzen und denke, vielleicht sollte ich mal mit ihr sprechen. Ihr sagen, dass das Ausmalen von Friedenstaubenausdrucken kein Religionsunterricht ist. Dass man auch Kindern schon mit Ernsthaftigkeit und Begeisterung die Geschichte von Gottes Sohn erzählen kann. Ich könnte ihr sogar Tipps zur Unterrichtsgestaltung geben, nach dem Hausunterricht während der Pandemie, in dem ich mehr Lehrerin als Mutter war, kenne ich mich mittlerweile in der Materie richtig gut aus. Keine Ahnung, sagt der Chaosprinz, ich höre ihr so gut wie nie zu.

Nachts in meinen Träumen bin ich immer öfter wieder ein Schulkind. In den Achtzigern herrscht Kalter Krieg, trotzdem fühle ich mich sicher hinter den Mauern des Klosters auf dem niedrigen Dach, auf dem wir mit den Schwestern Ball spielen. Die Menschen, die ich treffe, sind größer als ich und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in ihre Gesichter zu schauen. Alle Frauen sind Mütter und alle Männer Väter. Meine Lehrer sind wohlwollend und gerecht, sie bemühen sich darum, dass ich verstehe, aber die meiste Zeit weiß ich nicht so genau, was ich da eigentlich tue. Namen kann ich mir schon gar nicht merken.

Ich versuche, zu vermitteln. Na ja, sage ich dem Chaosprinzen, Religionslehrerinnen an der Grundschule, du weißt schon. Das darfst du gar nicht so ernst nehmen, das tun sie nämlich auch nicht. Die sind seltsamerweise in jeder Grundschule gleich. Die sehen sich sogar alle irgendwie ähnlich, kein Wunder also, wenn du dir ihren Namen nicht merken kannst. Und beim nächste Mal, wenn sie dich wegen irgendetwas anranzt, erinnerst du sie daran, dass du orthodoxen Bekenntnisses bist. Das sollte helfen.

In Disenchantment, einer Comicserie, die der Chaosprinz und ich gemeinsam verfolgen, sagten sie einmal, Gott würde nur jedes 25. Gebet erhören. Wir haben darüber gelacht, aber genaugenommen würde das vieles erklären. Ich habe jetzt keine Lust, das zu berechnen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass vor dem Hintergrund unseres Bevölkerungswachstums und des zunehmenden Leids auf diesem Planeten rein stochastisch ein Mensch also sein ganzes Leben lang durchbeten könnte, ohne dass ein einziges Gebet von ihm erhört würde.

Bezüglich seiner Religionslehrerin bleibt der Chaosprinz heute morgen uneinsichtig. Er kann nicht verstehen, dass „erwachsen“ nur eine Frage des biologischen Alters ist und nichts über die persönliche Menschwerdung des einzelnen aussagt. Seiner Ansicht nach dürfen Ungerechtigkeit, Lügen und Ausfälle in der Welt der Erwachsenen gar nicht mehr vorkommen. Er stellt sich das alles anders vor, aber in Wahrheit ist die Welt der Erwachsenen oft auch nur Kindergarten. Es ist nur nicht sozial akzeptiert, darüber zu reden, also thematisiere ich es nicht. Stattdessen einigen wir uns an diesem Morgen darauf, dass er seine Religionslehrerin zukünftig einfach freundlich anlächelt, wenn sie ihm etwas sagt. Sollte sie zwingend eine Antwort von ihm erwarten, so passt „Das ist schön!“ eigentlich für die meisten Gelegenheiten.

Bevor mir die heutige Zeit zum Schreiben ausläuft, muss ich aber dringend noch eine Lanze für die Schule brechen und erwähnen, wie toll die Klassenlehrerin des Chaosprinzen ist. Nach drei Jahren bei einer Lehrerin, die ich gar nicht erst mit Menschen arbeiten lassen würde, habe ich Anfang der vierten Klasse endlich einen Klassenwechsel erreicht und das war ein absoluter Glücksfall, trotz dämlicher Religionslehrerin. Die Klassenlehrerin des Chaosprinzen ist wohlwollend und gerecht, sie ist in ihrer Menschwerdung erwachsen geworden. Seitdem läuft es für den Chaosprinzen und mich deutlich entspannter mit Schule. Vielleicht hat Gott meine Gebete ja doch erhört.

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2 Kommentare

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2 Antworten zu “Gott und die Welt

  1. ja, vielleicht war es genau eines der 25. Gebete. Und ich kann mich gut erinnern, dass ich als Kind auch dachte; Erwachsen: das wird eine ganz neue Ära. Da weiß man alles, da steht man über den Dingen, da weiß man genau, was richtig ist und was falsch und wie man handeln muss. Im Nachhinein frage ich mich, woher ich bloß dieses Vertrauen genommen habe, bei allem was um mich herum passiert ist. Irgendwie ist dieser Glaube berührend und schön und gleichzeitig traurig, weil er zwangsläufig enttäuscht werden muss. Entschuldige, dass ich hier so viel schreibe. Vermutlich fehlt mir das Bloggen doch ein wenig 😉

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    • Mir fehlt deines in jedem Fall sehr. Ich schaue immer mal wieder hoffnungsvoll.
      Ich habe es Menschen, die älter sind als ich, immer übel genommen, wenn sie sich unreif verhalten haben.
      Die erste Klassenlehrerin vom Chaosprinzen hat ihn nicht nur abwechselnd kritisiert, ignoriert und schikaniert, je nach dem in welcher Laune sie gerade war, ich habe auch noch nie einen erwachsenen Menschen getroffen, der so dreist lügt.
      Je älter ich bin werde, desto mehr Menschen haben bei mir Welpenschutz, weil ich heute weiß, dass man auch mit Dreißig noch nicht unbedingt erwachsen ist.
      Ein wenig von diesem Glauben an Weisheit und Besonnenheit in der Erwachsenenwelt habe ich mir erhalten, ich selbst strebe danach und treffe auch immer wieder Menschen, die das verkörpern. Wie zum Beispiel die neue Klassenlehrerin. Das macht mich sehr dankbar und beruhigt.

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