Mückendreck

In meinem Kinderzimmer gab es früher in einer Ecke ein Waschbecken. Es war himmelblau und hatte einen funktionierenden Wasserhahn. Fotos aus der Zeit wurden von Negativen gemacht und suggerieren aufgrund ihres spiegelverkehrten Abzugs, dort in der Ecke sei nie ein Waschbecken gewesen, aber heute Nacht erinnerte ich mich im Traum über eine zufällige Assoziationskette an seine Existenz.

Es sind immer die Kleinigkeiten aus der Kindheit, die man vergisst und die dann ganz grundlos irgendwo wieder hochschwimmen wie Leichen in einem Baggersee. Diese Kleinigkeiten ziehen weitere Erinnerungen nach sich, an die man sich lieber nicht erinnert hätte. Jedenfalls habe ich das Waschbecken kaum genutzt. Manchmal habe ich mir dort Wasser für meine Wasserfarben geholt, manchmal hielt ich mich daran fest, wenn ich meine heimlich in London gekauften Spitzenschuhe ausprobierte, meistens verkroch ich mich unter dem Waschbecken in einer Ecke, die vom Schrank verdeckt war, weil ich unbeobachtet sein wollte.

Gibt es überhaupt jemanden mit einer glücklichen Kindheit? Oder ist das immer die Zeit, in der wir die meisten schmerzhaften Erfahrungen machen müssen, um daran zu wachsen. Diese vergleichsweise kurze Zeit unseres Lebens, die den größten Teil davon auszumachen scheint und uns prägt wie keine andere Zeit im Leben. Die Weichen legt, die dann nicht mehr zu stellen sind. Und warum vergessen wir sie dann wieder, all diese Unsicherheiten und Peinlichkeiten, die große Not, all die Verletzungen und die Hilflosigkeit der Erkenntnis, in dieser Welt niemals genügen zu können.

Mir fiel nicht ein, das Waschbecken dafür zu nutzen, meine Zähne dort zu putzen oder mir das Gesicht zu waschen. Dafür begab ich mich morgens ins Badezimmer zum Löwen, der aufmerksamen Auges den Grad meines Wachseins überprüfte. Meistens entging ich der Prüfung und ließ das Zähneputzen ganz ausfallen. Diese Entscheidung hat sich in den kommenden Jahren furchtbar schmerzlich beim Zahnarzt gerächt.

Irgendwo las ich mal den Spruch, es sei nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Ich weiß nicht mehr genau wo, ich würde ihn spontan Coelho zuordnen, der hat des Öfteren solch sentimentalen Mist geschrieben. Das ist natürlich Quatsch, die Kindheit lässt sich nicht zurückdrehen. Ab einem gewissen Alter hat man dann einfach schon zu viel gesehen von der Welt, um noch an irgendetwas zu glauben. Trotzdem wünsche ich mir manchmal, an irgendeinem Punkt wieder neu einsteigen zu können. Und es dann alles anders zu sehen.

Es erscheint mir ungerecht, dass ausgerechnet die Zeit in unserem Leben, in der wir die wenigste Kontrolle darüber haben, wie wir sie verbringen wollen, in der wir dem meisten Druck von Außen bekommen und die meisten Beurteilungen, dass also ausgerechnet diese Zeit die prägendste in unserem Leben sein soll. Vom Kindergarten an bis zum Ende unserer Bildungslaufbahn sind wir unentwegt der Bewertung anderer Menschen ausgesetzt. Diese Menschen vergessen unsere Namen, haben keinen Einfluss mehr auf unsere Zukunft, sie sind nicht einmal mehr ein Teil davon, und trotzdem ist ihr Urteil so meinungsbildend für unser Selbstbild.

Was bleibt mir jetzt von dieser faden Erinnerung an das himmelblaue Waschbecken?

Vielleicht die Einsicht, dass die Kindheit des Chaosprinzen nun schon halb vorbei ist, und dass ich mich in der ersten Hälfte nicht sonderlich gut geschlagen habe. So ist das Leben, kann ich sagen und alles en detail rechtfertigen. Aber mein Gespür sagt mir, dass diese Rechtfertigungen allesamt nichtig sind und dass ich in einer Welt, in der der Chaosprinz unablässig beäugt, begutachtet, bewertet, korrigiert, geschult und genormt wird, nicht auch noch meine Ansprüche an ihn stellen muss. Der Chaosprinz ist so viel mehr alles, was ich mir jemals erhofft hatte. Er ist freundlich und gütig, schlau und mutig, ehrlich und gerecht. Er ist lustig und großzügig, vorurteilsfrei und selbst denkend, chaotisch und königlich. Er ist der Chaosprinz und er hat die ganze Welt unter seinen Füßen. Das einzige, was er dafür braucht, ist meine bedingungslos Liebe.

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2 Kommentare

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2 Antworten zu “Mückendreck

  1. Richtig, der letzte Satz!
    Einer, der nie was glaubte, meinte mal, alle, die sagen, sie hätten eine glückliche Kindheit gehabt, wären am Schlimmsten dran gewesen…vielleicht meinte er, dass viele sich was heftig in die Tasche lügen, um nicht….Nun ja.
    Ronja Räubertochter, an die denke ich grad-
    liebe Grüße von Sonja

    Gefällt 1 Person

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