Da müsste man jetzt endlich mal aufräumen, denn alles liegt rum, als hätte jemand sämtliche Schränke und Regalschubladen ausgeräumt und auf alle verfügbaren Flächen gekippt. In Wahrheit hat man zu wenig Kraft, die Zeit ist einfach zu kostbar und eigentlich hat man auch keine Lust. Dann stolpert man beim Aufräumen über ein altes Tagebuch aus den frühen Neunzigern. Eines, das dem Feuer noch nicht zum Opfer wurde, und man fragt sich, weshalb man es aufbewahrt hat.
Das Aufräumen ist vorerst verschoben. Man liest sich ein und stellt fest, dass man sich kaum verändert hat. Man ist natürlich älter geworden. Der Körper hat sich verändert, die Haut erliegt der Schwerkraft. Und man hat auch nicht mehr alle Zähne. Man liest: „Es gibt so unendlich viele Möglichkeiten meines Werdegangs, dass es mir fast ein wenig Angst macht.“, und fragt sich in der Retrospektive von einem Viertel Jahrhundert, was denn jetzt aus einem geworden ist. Und ob man es damals bereits hätte absehen können.
Man blättert weiter, es sind nur knapp zwanzig Seiten beschrieben, in großzügiger Schrift, gut lesbar und ordentlich, gefällig fürs Auge, denn eine feine Handschrift gehört sich für ein Mädchen und wurde damals im Zeugnis benotet. Man liest: „Ich werde meinen Weg schon gehen, ich komme ja immer und überall ganz gut durch.“, und fragt sich, wann einem eigentlich bewusst wurde, dass man ein Halm im Wind ist, anfangs elastisch und biegsam, später verholzt und brüchig.
Da ist das Studium, zwei Kommilitonen, die sich schlagen und vertragen, und das alles schreibt man auf, aus der Entfernung, denn man ist gar nicht Teil dieser Freundschaft, nur um dem eigenen Leben etwas mehr Inhalt zu geben. Die Arbeit als Übersetzerin im Flüchtlingsdorf, manchmal spannend, manchmal ausgesprochen nervig, aber richtig gut bezahlt. Und immer wieder die Frage danach, was Normalität ist. Deshalb schreibt man vorsichtshalber alles auf, bis auf das kleinste beobachtbare Detail über Menschen, die man kaum kennt, an die man sich heute nicht einmal mehr vage erinnert, um herauszufinden, wie sie leben. Kann man Normalität lernen?
Man liest: „Gestern waren wir auf K’s Geburtstag. Es war zwar langweilig, aber richtig klasse!“, und fragt sich, was man damit gemeint haben könnte. Man fand Geburtstage immer langweilig. Meist kannte man ohnehin nur das Geburtstagskind, dessen Mutter es gezwungen hatte, einen einzuladen, denn mit sozialen Beziehungen hatte man es ja nie so wirklich. Man kam herein, gab sein Geschenk ab, drückte sich an einer Vielzahl fremder Menschen vorbei in eine Ecke, in der man kaum auffiel, und beobachtete das Treiben. Es sah aus, als würden die Anderen sich amüsieren, während sie einen gar nicht unfreundlich ignorierten. Also notierte man für sich, dass Geburtstagsfeiern eigentlich Spaß machten. Nur einem selbst eben nicht. Nicht einmal die eigene.
Immer noch weiß man nicht, weshalb das Tagebuch nach nur wenigen Seiten endet, man blättert weiter und liest, dass die Tante aus Belgrad sich für die kommende Woche angekündigt hat und man ihr vorsichtshalber einen Brief schreiben sollte, um sie auf das ungewöhnlich schlechte Wetter für Mitte Mai vorzubereiten, und man fragt sich, ob man das wirklich getan hat, anderer Menschen Sorge zu tragen, mit Anfang Zwanzig, als hätte man nicht schon genug an den eigenen Sorgen zu tragen gehabt.
Man liest vom längst vergessenen Verrat einer Freundin, deren Freundin man offenbar nie war, aber man hatte sehnsuchtsvoll darauf gehofft, und man schrieb: „Bald kann ich niemandem mehr vertrauen.“, und heute traut man tatsächlich niemandem mehr, aber das lag gar nicht an besagter Freundin. Man liest weiter und fragt sich, weshalb man damals nicht über die knapp zwanzig Seiten hinaus kam, obwohl man es natürlich weiß, man selbst hat die Tagebücher ja geschrieben und nach wenigen Seiten ein neues angelegt. Das schien damals die ungeschriebene Regel zu sein, angefangene Tagebücher, die abrupt irgendwo endeten. Welch eine Papierverschwendung, denkt man heute automatisch mit dem Bewusstsein für die Umwelt und den Geldbeutel.
Man liest über die vielen kleinen Nebensächlichkeiten des Alltags, worauf man sich gefreut und was man eher gefürchtet hat, aber alles davon hat man irgendwie überstanden, manchmal unbeschadet, manchmal nicht. Man fragt sich, wie man sich selbst so wichtig nehmen konnte, wo es doch sonst niemand tat, dass man das alles für wichtig genug hielt, um es aufzuschreiben, und es kommt einem der Verdacht, der einem immer kommt, wenn man alte Tagebücher gedanklich neben die eigene Lebensgeschichte stellt, nämlich, dass man eigentlich etwas ganz anderes hatte aufschreiben müssen, es aber nicht konnte. Und so füllte man die Seiten mit Belanglosigkeiten, die einem die eigene Normalität attestieren sollten. Dabei war überhaupt nichts im Leben normal.
Schließlich erreicht man die letzte beschriebene Seite des Tagebuchs, dessen Einband schon längst aus dem Leim gegangen ist und jetzt liest man, weshalb es abrupt endet, weshalb jedes Tagebuch über kurz oder lang höchstens halb vollgeschrieben endete, und man holt das Feuerzeug, denn das muss man nicht aufbewahren und gelesen werden muss es auch nicht ein zweites mal.
Und wie so viele der auf Papier gebrachten Gedanken übergibt man auch diese dem Feuer, als könne es irgend etwas davon auslöschen oder ungeschehen machen. Aus reichlicher Erfahrung weiß man, dass das nicht geht, ganz gleich, wie oft man es versucht hat. Man macht es trotzdem. Könnte ja sein, dass es diesmal vielleicht funktioniert.
„verholzt und brüchig“ – das blieb hängen, und auch die Vernichtung der anderen Tagebücher, denn ich habe es ebenso gemacht. Besser so.
Gruß von Sonja
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Seltsam, dass man es trotzdem getan hat, sie zu schreiben, meine ich, immer wieder. Ich glaube, bei mir versteckte sich irgendwo die Hoffnung zwischen den Seiten, es irgendwann doch einmal zu Papier zu bringen, das, was ich eigentlich stattdessen hätte aufschreiben sollen. Das Unfassbare in Worte zu fassen. Aber es gehört ungeheuer viel Mut dazu – und ich bin echt nicht besonders mutig. Also schreibe ich weiter und nähere mich immer mal wieder in konzentrischen Kreisen. Das ist ein Anfang.
P.S.: brüchig ja, aber ungebrochen 😉
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