Im liebsten Nachbarblog lese ich darüber, dass man die Dinge erst dann wertzuschätzen gewusst habe, als sie bereits unwiederbringlich verloren waren. Eine Eigenart, lese ich und bleibe daran hängen. Ist das denn nicht eigentlich immer so? Geht etwas Wichtiges verloren, hinterlässt es eine Lücke, die nicht selbstverständlich gefüllt werden kann. Das ist immer traurig. Alles, was vorbei ist, wird irgendwann unweigerlich traurig.
Dass wir erst zu schätzen wissen, was wir hatten, wenn wir es nicht mehr haben, scheint mir tief in der menschlichen Natur zu liegen. Es gibt sogar einen Fluch auf dem Balkan, der lautet: Gott gebe, dass du hast – und dann nicht mehr hast! Viel schlimmer ist es, etwas gehabt und dann verloren zu haben, als es nie gehabt zu haben. Lange Jahre wollte ich deshalb nichts mehr. Meine Angst, zu verlieren, war größer, als mein Wunsch, zu besitzen.
Das hat absolut seine Logik, hakt aber an anderer Stelle ganz gewaltig.
Zum einen suchen wir uns vieles im Leben nicht selbst aus. Ein großes Stück unserer „Ausstattung“ bekommen wir ungefragt einfach so geschenkt und manchmal verlieren wir es genauso einfach wieder. Ich habe den Chaosprinzen zum Beispiel nie gefragt, ob er Haustiere möchte, sie waren schon vor ihm da. Als der Hund so alt war, dass er eingeschläfert werden musste, war das für den Chaosprinzen trauriger Teil des Deals, während für mich der Verlust fast unerträglich war.
Als meine Eltern starben, schoss mir der Gedanke durch meine Trauer, ob es nicht viel besser gewesen wäre, wenn ich nie adoptiert worden wäre, also einfach gar keine Eltern gehabt hätte, dann wäre der Schmerz des Verlusts jetzt nicht so groß. Offenbar, so dachte ich, hatte das Schicksal Eltern für mein Leben gar nicht vorgesehen, sonst hätten mich meine leiblichen doch gar nicht erst weggegeben. Ich dachte den Gedanken weiter und kam zu dem Schluss, dass das Universum die natürliche Ordnung meines Daseins mit dem Tod meiner Eltern nun mehr wiederhergestellt habe, indem es mich jetzt elternlos machte, ganz so wie es eigentlich für mein Leben vorgesehen gewesen war.
So kindisch das auch klingen mag – ich war zu dem Zeitpunkt bereits Dreißig – was solls! Anfang Fünfzig kann ich aus voller Überzeugung sagen, dass das Erwachsensein ohnehin maßlos überschätzt wird und überhaupt gar nicht erst erstrebenswert ist. Außerdem ergab dieser statthafte Gedanke einen berechtigten Sinn für meine Trauer. In jener Nacht des Abends, an dem meine Mutter gestorben war, legte ich mich zum Schlafen in ihr Bett und fühlte mich unendlich getröstet.
Zum anderen lernte ich im Studium die Kosten-Nutzen-Analyse kennen. Rein rechnerisch drückt sie aus, dass, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt, sich eine Anschaffung lohnt. Das klingt chirurgisch kalt, aber irgendwann im coming out of age begreift man, dass einem nichts im Leben geschenkt wird, auch dann nicht, wenn es im gebührenfreien Kleidchen daher kommt. Lohnt es sich dann trotzdem? Kommt ganz auf die Kosten-Nutzen-Analyse an. Und die ist, wie alles im Leben, das seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, dann aber wieder doch ganz persönlich auf den Einzelnen herunterzubrechen.
Manchmal hängen mir die Trauben viel zu hoch im Stock. Ich müsste mich ganz schön strecken, um sie zu erreichen. Anstrengung finde ich anstrengend und ich bin auch nur selten etwas begegnet, was ihrer wirklich lohnenswert gewesen wäre. Deshalb lasse ich die Trauben meistens hängen, wo sie hängen, und finde, zur Not schmeckt Klee doch auch ganz gut.
Ich weiß jetzt nicht mehr so genau, worauf ich mit all dem eigentlich hinaus wollte, Verzeihung. Vielleicht wollte ich auch einfach nur festhalten, dass manche Dinge ganz universell sind, auch wenn sie für uns zum ersten Mal sichtbar werden. Beim Lesen fremder Gedanken sieht man oft, wie wenig wir uns in unseren Einstellungen, Ansichten und Mustern unterscheiden. Wie ähnlich sich unsere Erfahrungen doch sind, selbst dann, wenn wir auf unterschiedlichen Seiten der Welt geboren wurden.
Manchmal denke ich, es gibt dieses kollektive Meer des Bewusstseins, aus dem wir alle gemeinsam schöpfen wie bei den Ameisen, diese Ursuppe, aus der wir alle entstanden sind. Und Individualität ist darin lediglich die Illusion einer Gesellschaft, der man sich durch ein Anders Sein auf gar keinen Fall zu widersetzen hat, wenn man seinen Platz darin sucht.
ich bin so froh über deine klugen Einträge. Echt jetzt. Ja, ich empfinde das auch so, dass das „erwachsenen sein“ maßlos überschätzt wird, ich hatte mir das sehr viel würdevoller und irgendwie mit Weisheit geschmückt vorgestellt. Wobei dieser letzte Abschnitt; an die „Ursuppe des Kollektivs“ an die ich auch unbedingt glaube, kommt man vermutlich erst in einem gewissen Alter wirklich bewusst heran, gespürt hat man es ab und an schon früher, aber Worte (zumal solche wie deine hier) findet man erst später.
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Das darf ich bitte genauso zurückgeben. Ich freue mich jeden Morgen, dass dein Blog wieder geöffnet ist. Ja, man denkt, Erwachsene seien reif und würdevoll und klug – und stellt dann häufig fest, dass sie die gleichen Kinder geblieben sind, die damals zotige Witze über deinen Nachnamen machten und dich wegen deiner Clockhousejeans vom C&A ausgelacht haben. Aber heute kannst du dich einfach umdrehen und gehen – in der beruhigenden Gewissheit, dass ihr nicht mehr auf dem gleichen Planeten lebt.
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…einen Fluch auf dem Balkon, zu schnell gelesen, bisschen mich gewundert, dann genauer hingeschaut. Balkan, ach ja.
Rührend, sich nach dem Tod der Mutter in ihr Bett zu legen, nachvollziehbar ist es mir. Dieses verwaiste Gefühl nach ihrem Tod, dieses häufige: Ich könnte sie mal wieder anrufen…Nie mehr, nur noch Muttergedanken. Doch wer weiß, was kommt…
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