Tagesthemen

Pädagogischer Ganztag nennen die Lehrerinnen und Lehrer den unterrichtsfreien Tag heute, an dem die immergleichen Fragen diskutiert werden sollen. Auf der Agenda steht wie in den letzten vier Jahren das Thema „digitale Schule“ – weit scheinen sie damit nicht gekommen zu sein. Vermutlich treffen sich die Pädagogen vormittags in der Schule und genießen einen Schüler freien Tag bei Kaffee und Brunch.
Für den Chaosprinzen sind solche Tage nicht unterrichtsfrei, er muss Hausaufgaben machen, nur ohne vorangegangenen Unterricht. Das ist in einer Schule, die auf Selbstlernhefte und Arbeitsblätter statt auf ordnungsgemäßen Unterricht setzt, ohnehin die Regel. Morgen schreibt er dann über das, was er heute lernen sollte, eine Lernerfolgskontrolle. Er pfeift drauf und geht lieber schwimmen. Ich habe keine validen Gegenargumente und packe das Mittagessen in seinen Rucksack.

Ganz traditionell beginnt heute auch unsere persönliche Eurovisionswoche. In dieser Woche finden am Dienstag und am Donnerstag die beiden Halbfinale des Songcontests statt, am Samstagabend dann das Finale. Ich bin ein Fan, seit ich denken kann. Nicht nur des ESC, sondern der Idee, die hinter dem Konzept steht. Geografisch zufällig zusammengekommen bilden wir einen Kontinent, der aus vielen einzelnen, wunderbaren Nationen besteht. Der Gedanke hinter den römischen Verträgen war, Grenzen zu überwinden und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen, in dem die nationalen Eigenheiten respektiert werden. Auch wenn sich diese Utopie zerschlagen hat, Europa vom Brüsseler Wasserkopf reichlich desillusioniert wurde und trotz aller Bemühungen wieder einmal Krieg in Europa herrscht, auch dieses Jahr kommen die Länder Europas zusammen, um in einem Liederwettbewerb den einen europäischen Song zu wählen. Jenseits aller nationalen oder anderer Vorurteile geht es hier um ganz unterschiedliche Unterhaltung aus vierzig Nationen. Und wir sind mit großem Eifer dabei, hören uns die Favoriten an, bilden uns selbst eine Meinung und drücken unseren eigenen Favoriten fest beide Daumen und Zehen.

Es sind heute auch genau 21 Jahre, seit mein Vater starb. Es war ein warmer Frühlingstag und ich hatte Erdbeeren für ihn mitgebracht. Eigentlich wollte ich nur kurz reinschauen wie jeden Tag und dann weiter zur Vorlesung fahren, aber dann nahmen die Dinge ihren dynamischen Lauf und ich blieb. Die letzten Stunden meines Vaters hatten sie ihn mit Morphium komplett weggeschaltet. Hilflos saß ich am Bettrand des großen, starken Mannes, den ich meine ganze Jugend durch nur sporadisch getroffen hatte, und der mir deshalb fremd geworden war. Seine neue Familie war nach Hause gefahren, um sich frisch zu machen und Wäsche für die Nacht zu holen, als die Atmung meines Vaters aussetzte. Zwei Ärzte und zwei Schwestern standen in gebührendem Abstand in der Tür des Zimmers, während mein Vater sich aufbäumte, die Augen aufriss und angestrengt in die Ferne starrte. Als er wieder in die Kissen zurücksank, war er tot. Draußen fuhr ein Bus vorbei. Ich drehte mich fragend zu den Ärzten um, sie nickten. Der Tod ist eben manchmal der beste Kollege des Arztes.
Ich ließ die Erdbeeren an der Garderobe des Krankenhauszimmers hängen und floh, bevor die neue Familie wieder zurück war. Seitdem habe ich nie wieder Erdbeeren gekauft.

2 Kommentare

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2 Antworten zu “Tagesthemen

  1. Roswitha

    danke für das teilen dieser erinnerung. ich freue mich darüber dass du es aufschreiben kannst und mich an etwas erinnerst. herzlich, roswitha

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  2. …die Dinge nahmen ihren dynamischen Lauf – bis hin zum Tod.
    Eine intensive Beschreibung, und ich danke dafür!
    Einen Gruß mit einem kleinen Stückchen Erdbeerkuchen von
    Sonja

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