Wer bist du?, fragt mich heute jemand, und ich denke nach. Mir fällt ein, was ich alles bin, und was alles nicht, aber nichts davon wäre etwas, von dem ich sagen würde, dass es mich ausmacht. Eine Ansammlung von Erfahrungen, guten und schlechten, eine Fusion der Erinnerungen an zufällige Begegnungen, ein Ergebnis aus Entscheidungen, richtigen und falschen. Wer bin ich, wenn ich alles wegnehme, was der Strom der Zeit ohnehin zermahlen wird. Was bleibt von mir, wenn ich alles wegnehme, was mir heute anhaftet.
Mühsam ist die Zeit, wenn sie kaum vergeht. Die Tage ziehen sich wie Gummi und flitschen unerwartet fies zurück, wenn man es am wenigsten erwartet. Morgen, Mittag, Abend, der Alltag in Struktur, an der man sich festhalten möchte, um nicht den Boden zu verlieren. So aufgeteilt kann doch nichts schiefgehen, denkt man, aber dann wird es trotzdem Nacht und die bringt eine Dunkelheit, so zeitlos wie hundert Stunden Stille. Ein neuer Tag wird gewiss bereits erwartet, aber es zieht sich alles endlos hin, Tag um Nacht und Nacht um Tag, und nur die Kinder wachsen, der Rest bleibt, wie er ist.
Martin Suter beschreibt in seinem Roman „Die Zeit, die Zeit“ einen Zeit-Nihilisten, der Zeit als Konstrukt ablehnt und lieber an die Veränderung glaubt. Und tatsächlich ist Veränderung der Zeit so immanent, dass man leicht dem Glauben verfallen könnte, Zeit sei nur das Ticken der Uhren, der Wechsel vom Tag zur Nacht, ein Alterungsprozess der Zellen bis zum geplanten Tod. Ich koche einen Tee und er kocht mich. Ich koche einen Tee, aber das lohnt sich gar nicht. Denn ich werde ihn erst trinken, wenn er kalt ist, weil ich über den Tee die Zeit vergesse und über die Zeit den Tee, und dann muss ich den Tee kalt trinken. Dann kocht nichts mehr.
Wer bist du?, frage ich mich und denke nach. Wer bin ich, wenn ich wegnehme, was andere Menschen in mir sehen. Etiketten, die mir anhängen, die mich beschreiben, charakterisieren, kategorisieren sollen. Eine Projektionsfläche zur Identifikation einer Gruppenzugehörigkeit, Gleiches zu Gleichem in die gleiche Schublade. Ich verstehe das gut, es ist der überaus menschliche Wunsch nach Ordnung in einer chaotischen Welt, der diese Zuordnung vornimmt. Mathematiker wissen aber, dass das Universum in Wahrheit gar nicht chaotisch ist, sondern dass jedem vermeintlichen Chaos eine perfekte Ordnung zugrunde liegt, so vollkommen logisch und aufgeräumt, dass es in den schönsten Fraktalen malt.