Erinnern heißt Vergessen

Wie die Zeit vergeht, in riesigen Sprüngen hüpft sie davon, wie die Hasen auf den vor einigen Tagen gemähten Feldern vor dem Haus. Große Heuballen Zeit blieben darauf zurück, sie blenden sich mit ihrer Farbe ins Feld, bis ein Traktor sie irgendwann fortfährt.

Heute Morgen im Bett zeigte mir mein Handy an, ich hätte nicht mehr genug Speicher. Das Handy ist kurz vor seiner Pensionierung, es hat einen guten Job gemacht und eigentlich bräuchte es einen Nachfolger. Und so beginne ich, unnötige Daten davon zu löschen, alte Notizen, schnelle Schnappschüsse und überholte Chatverläufe. In den vergangenen sechs Jahren gab es einige kurze Begegnungen, die getrost gelöscht werden können. Eine davon schleppe ich nun seit fast zwei Jahren durch jede Löschaktion, weil ich sie bis heute aufbewahren musste. Damit ich mich erinnere, bevor ich vergessen kann. Denn Erinnern heißt Vergessen, sagt man. Das liegt daran, dass im Gedächtnis das eigentliche Ereignis mit jeder neuen Erinnerung daran überschrieben wird. So verändert sich das ursprüngliche Geschehen, wird reduziert auf das Wesentliche, Gedächtnislücken werden aufgefüllt mit dem nächstliegenden, es entstehen Geschichten und daraus werden Legenden. Mit dem ursprünglich Geschehenen haben die meist nicht mehr viel zu tun.

Es ist ein sehr individueller Prozess, scheint mir, das Erinnern. Wenn ich mich mit Bekannten an alte Zeiten erinnere, haben wir immer ganz verschiedene Entwürfe von dem gemeinsam Erlebten. Vor einigen Jahren schrieb mich eine alte Schulkameradin auf Facebook an. Mit einiger Vorsicht las ich ihre Nachricht, antwortete unverbindlich, denn in meiner Schulzeit war ich ein gemobbtes Kind. An guten Tagen wurde ich ignoriert, doch wenn es unvermeidbar war, dass man auf mich traf, dann nutzte man die Gelegenheit, um mich zu ärgern, beleidigen und zu erniedrigen. Deshalb ist mir meine Schulzeit in keiner guten Erinnerung geblieben.

Es ist natürlich ein anderes Thema, aber es dient der Vollständigkeit und ist ja auch kein Geheimnis mehr, wenn ich erwähne, dass Mehrheitsgesellschaften noch nie mein Ding waren. Bis heute habe ich keinen blassen Schimmer, woran das liegen könnte, aber irgendwie falle ich den Menschen immer ins Auge wie ein bunter Hund. Als hätte ich eine Plakette mit der Aufschrift „Ich gehöre nicht dazu!“, meiden sie mich, sobald ich sie nur grüße. Ein anderes Thema, natürlich.

Jedenfalls hatte besagte Schulkameradin unsere gemeinsame Schulzeit ganz anders in Erinnerung als ich. Auf meine vorsichtige Antwort auf ihre Nachricht ergoss sich eine Lobeshymne auf unsere Freundschaft. Es fielen Sätze, die nahelegten, wie gut wir uns verstanden hätten, wie hilfreich ich ihr bei der Bewältigung der Herausforderungen des Erwachsenwerdens gewesen sei, wie nett wir es doch hatten. Tja, und da stehst du jetzt mit deinen eigenen Erinnerungen an diese gruselige Zeit und fragst dich, ob du deine Horrorszenarien nicht getrost überschreiben könntest mit ihren Schmetterlingsregenbogengeschichten. Die Versuchung dazu ist groß.

Ein weiteres, großes Zitat lautet: „Alles, was vergangen ist, ist schön!“ Keine Ahnung, wo ich es gehört habe, ich meine, es wird einem russischen Autor zugeschrieben, aber seit ich es kenne, denke ich darüber nach. Ich frage mich, ob es wirklich so ist, dass man seine Vergangenheit nur deshalb verklärt, weil sie vergangen ist. Weil es einfacher und auch viel angenehmer ist, sich nur an das Schöne zu erinnern statt an das Furchtbare. Damit überschreibt die Freude das Leid jedes Mal aufs Neue, bis man sich nicht mehr so genau erinnern kann, bis nur noch der Sonnenschein vom Sommer bleibt und der Regen vergessen ist. Was waren das für schöne Zeiten damals.

Eine Hypothese, nach der das persönliche Empfinden von Leid zu einer Frage der Zeit wird. Je näher die Vergangenheit, desto seltener ist sie freundlich überschrieben worden, desto präziser erinnern wir sie. Je weiter die Vergangenheit sich entfernt, desto öfter ist sie überschrieben worden mit Freude und Sonnenschein. Deshalb war früher wohl auch alles besser und nicht etwa, wie angenommen, der bloßen Tatsache geschuldet, dass wir das Früher überlebt haben, also kann es so schlimm ja nicht gewesen sein. Kompliziertes Gehirn.

Im Falle der bisher noch nicht gelöschten Kommunikation aus meinem Handy ist die Erinnerung noch frisch. Einzelheiten wurden vergessen, das gebe ich zu, aber das Wesentliche ist noch vorhanden. Aus Wut und Enttäuschung ist mit der Zeit ein Wundern geworden, darüber, wie einfach ich vertrauen konnte und wie leichtfertig mein Vertrauen missbraucht wurde. Ich habe mich immer schon darüber gewundert, wie Vertrauen funktioniert. Es ist, als würde ich selbst mir gar nicht aussuchen können, wem ich vertraue. Aus einer Flut von Begegnungen taucht plötzlich jemand auf, der mir vertrauenswürdig erscheint und zu dem ich dann ganz selbstverständlich Vertrauen fasse. Als Kind habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass derjenige mein Vertrauen gar nicht wollte, seitdem bin ich vorsichtiger geworden, wenn es darum geht, jemandem zu vertrauen.

Natürlich hat das viel zu tun mit der Angst vor Ablehnung, mit der Überzeugung, dem Gegenüber nicht zumutbar zu sein, mit dem Selbstbewusstsein darüber, wer ich bin, und dem Selbstwertgefühl, was ich kann. Als ich klein war, gab ich mich gern der sehnsüchtigen Illusion hin, dass jeder Mensch das Kind von jemandem sei. Dass jeder Mann ein Vater und jede Frau eine Mutter ist. Ich dachte mir aus, dass Familie immer selbstverständlich ist, wenigstens einer da, der liebt und einer, der geliebt wird. Ich wusste auch damals schon, dass das so nicht stimmt, aber diese Vorstellung gab dem Dasein doch irgendwie einen Sinn.

An diesem Sinnbild hat sich bis heute nicht viel geändert, ich habe es lediglich etwas überarbeitet. Würde ich jetzt spirituell werden wollen, so würde ich behaupten, dass, wenn wir alle aus dem Einem hervorgehen und zu dem Einen zurückkehren, der einzige Grund unserer Menschwerdung, unserer Manifestation in einer materiellen Welt, die Begegnung ist. Wir werden einander kurzfristig zum Gegenüber, bevor wir in der Summe dann wieder Eins ergeben. So oder so ähnlich vielleicht, jedenfalls kann man sich nur auf einem Spielfeld begegnen. Und mir gefällt diese Vorstellung, weil sie den Raum offen lässt für alle möglichen Spielarten. Auch wenn ich eigentlich genug von Begegnung habe, weshalb ich meist versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Und doch sind trotzdem ab und an immer wieder welche da, manche gewaltig wie ein Orkan und manche unscheinbar fast. Begegnungen, die mich lehren, verändern, prägen, und wenn sie lange genug her sind, dann ist die Erinnerung an sie auch immer schön.

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Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Erinnern heißt Vergessen

  1. „Große Heuballen Zeit…“ganz wunderbar gekonnte Formulierung, finde ich.

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