Irgendwo ist jetzt noch Sommer

Über Nacht kriecht schon die Herbstkälte ins kleine Schachtelhaus und so sitzen wir morgens frierend am Frühstückstisch. Der frühe Morgen ist für keinen von uns eine gute Zeit. Die Suppenfreundin gähnt, der Chaosprinz schaut blass aus seiner Kapuze. Mit langen Zähnen isst er sein belegtes Milchbrötchen und lässt die Hälfte liegen, bevor er den massigen Ranzen auf die Schultern wuchtet und zum Bus eilt. Dort ist es warm, sagt er, und freut sich drauf. Vor einer Kollektion schmutzigen Geschirrs bleibe ich zurück und erinnere mich, dass auch ich immer froh war, wenn ich aus der Kälte meines Elternhauses in den warmen Bus steigen konnte. So wie die Dinge stehen fürchte ich, dass wir diesen Winter das kleine Schachtelhaus nicht mehr ordentlich beheizen können. Deshalb habe ich begonnen, aus Wollresten eine warme Decke für den Chaosprinzen zu stricken.

In der Schule wurde ein Wimmelbild zum Ausmalen ausgeteilt. Es liegt hier, aber niemand hat ernsthaft vor, so ein Monster zu kolorieren. All die Zeit, die man bräuchte, um jede einzelne Kleinigkeit darauf auszumalen, wo würde die denn hingehen?
Nachts träume ich immer öfter von meiner eigenen Schulzeit. Ich irre durch die endlosen Gänge einer Schule, die ich einmal besucht habe, Der beißende Geruch von Industriereiniger hängt über den Räumen, alles wirkt steril funktional. An den Wänden hängen Gemälde von Ordensschwestern und Erzbischöfen, gefällig in Sichthöhe angebracht, damit das Auge sich schnell gewöhnt, so dass man sich bald keines mehr genau anschaut. Was sah ich, als ich sie zum ersten Mal sah? Das weiß ich nicht mehr.
Ich bin einsam, aber nicht allein, denn um mich herum sind hunderte Schülerinnen, die alle genau wissen, wohin sie gehen. Ich suche eine dunkle Ecke, in der ich allein sein kann, um der Hilflosigkeit in mir eine Heimat zu geben. Es ist kein Leben, es ist ein Alltagskrieg.

Es ist, als hätte ich mehrere Leben auf einmal gelebt, eines für jede Gelegenheit. Weil ich mich zwischen den unzähligen Möglichkeiten nie habe entscheiden wollen. Es ist viel bequemer, sich nicht festzulegen, als immer den richtigen Weg zu suchen. Eines Tages gehe ich einfach hinaus und niemand weiß, wo ich bin. Ich gehe, bis ich an einen Fluss komme, an dessen Ufer ich die vorbeiziehenden Containerschiffe beobachten kann. So umrunde ich die ganze Welt und bereise das halbe Universum und bin in Wahrheit immer noch dieselbe. Kurz bevor es dunkel wird, komme ich nach Hause.
Aus reiner Gewohnheit wünsche ich mir, was von mir erwartet wird, und komme mir dabei sehr individuell vor. Nur hin und wieder ziehe ich einen Strich und wundere mich, dass das, was ich sehe, das bestmögliche ist, was ich für mich erreichen konnte. Dann werde ich schwermütig, aber nur kurz, denn der Kosmos wartet nicht auf meine Befindlichkeit. Vielleicht rettet mich jede Nacht die Gewissheit über den neuen Tag. Vielleicht ist aber auch das nur Gewohnheit.

Im Süden, so schreibt meine Schwester, ist es noch Sommer. Die Tage sind heiß und das Meer viel zu warm für eine Abkühlung. Das Schuljahr beginnt hier erst Anfang September, aber eigentlich ist auch das noch zu früh. Sie schickt ein Foto, abends bei einem Glas Weißweinschorle im Restaurant. Durch die Dunkelheit des Hintergrunds scheint das rote Licht des kleinen Leuchtturms, der die Einfahrt in den Hafen deutet. Seltsamerweise erinnert mich genau dieses kleine Licht auf dem Foto plötzlich wieder daran, dass alles im Leben nur eine Frage des guten Willens ist.

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