Ich mag die ersten Tage eines Monats, wenn das Kalenderblatt noch frisch und die Zeit eines ganzen Monats vor mir liegt. Es ist wie ein Neubeginn, die Geburt eines Monats, der so viele Möglichkeiten bereit hält, so viel Zeit, die die Chance bietet, alles noch ein bisschen besser zu machen, das Leben immer näher an das erträumte Ideal zu bringen. Ein exzeptioneller Tag, an dem einfach alles möglich wäre, und wenn es gut läuft, ist das ein gutes Omen für den ganzen Monat.
Drei Wochen ist der Chaosprinz jetzt auf der weiterführenden Schule und es beginnt sich auszuzahlen, dass ich im Vorfeld bereits eine gute Organisationsstruktur für ihn aufgebaut habe. Es gibt beschriftete Ablagefächer für jedes Fach und eine Liste, wie der neue Tag am Abend vorher vorbereitet sein will. Darüber hängt der Stundenplan und daneben ein Zettel mit goldenen Regeln und wichtigen Terminen, so dass nichts verpasst wird. Der Ranzen ist fachübergreifend, aber gut sortiert, so dass mit einem Griff alles hervorgeholt und auch wieder verstaut werden kann. Meine eigene Ordnungsstruktur wird durch ein gutes Organisationsmanagement aus der Schule komplementiert, so dass der Chaosprinz nicht lange grübeln muss, was er jetzt eigentlich zu tun hat, sondern sich ganz auf das Lernen konzentrieren kann. So bleibt er stets am Ball.
Die Klassengemeinschaft ist wie jede Klassengemeinschaft: Es gibt Häme und Spott, starke Männer und hübsche Mädchen, Streber und Klassenclowns. Abends, wenn der Chaosprinz im Bett liegt, setze ich mich zu ihm und lasse mir von den sozialen Strukturen in der Klasse erzählen. Gestern, so erzählte der Chaosprinz mir, kam ein Junge nach Bio auf ihn zu und boxte ihm in die Rippen. Erstaunt sah der Chaosprinz ihn an und fragte, warum er ihn geboxt habe. Da sagte der Junge: Weil du nervst!
Was macht man da?, fragt er mich, wie soll ich denn auf sowas reagieren?
Ich dachte einen Augenblick nach, wie ich dem Chaosprinzen in diesem Fall raten soll. Am Ende entschied ich mich für einen Rat, den ich für meinen Geschmack viel zu spät von einer Tante bekommen hatte. Das Leben, so sagte sie mir damals, ist manchmal ein Meer aus Scheiße und wir schwimmen alle bis zum Hals darin. Die Kunst des Lebens ist es nun, sich immer nur neben denjenigen aufzuhalten, die keine Wellen schlagen. Von allen anderen hält man sich besser fern, wenn man keine Scheiße schlucken will.
Die Digitalisierung der Schulen hat sicher seine Vorteile, vor allem, wenn so eine Pandemie den Planeten überrollt und alle Menschen zu Hause bleiben müssen. Ein Nachteil ist, dass wir am letzten Wochenende einen Haufen Zeit in die Anmeldung und die Erforschung der Plattform stecken mussten. Intuitiv ist da für mich überhaupt gar nichts. Glücklicherweise gehört der Chaosprinz schon zur Generation Internet und hat offenbar dadurch eine genetische Prädisposition, die ganzen Seiten und Links und Foren und Programme viel schneller zu begreifen als ich. Um die Kinder an die Plattformkommunikation zu gewöhnen, war eine Hausaufgabe der Lehrerin, ihr einen Witz über email zu schicken. Der Chaosprinz überlegte, dann entschied er sich für einen selbst erdachten, und ich finde, das ist ein ganz wundervoller Witz:
Eine Familie bekommt ein Kind.
Der Vater fragt: „Wie sollen wir es nennen? Hans vielleicht? Oder Klaus? Oder vielleicht doch lieber Johann?“
Die Mutter antwortet: „Nein, wir nennen es Schulfrei – vertrau mir, das wird lustig.“
Elf Jahre später.
In der Klasse prüft die Lehrerin die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler.
„Sabine?“, sagt sie.
Sabine ruft: „Ja!“
„Klaus?“, sagt die Lehrerin.
„Ja!“, ruft Klaus.
„Schulfrei?“, sagt die Lehrerin.
Die ganze Klasse ruft: „Jaaaaaaa!“