Es gibt Nächte, da ist an Schlaf nicht zu denken. Diesig verhangene Felder im Mondschein vor dem Fenster. Ich liege bequem zwischen gestern und morgen, aber jetzt ist heute, denn heute ist immer jetzt.
Die Suppenfreundin schrieb am frühen Abend, sie sei eine Suppe essen gegangen, was auch sonst, sie schrieb, sie sei allein, aber nicht einsam. Ich bin nicht allein, schrieb ich zurück, nur unendlich einsam.
Es gibt Nächte, in denen ich vor Müdigkeit kein Auge zu bekomme, und ich liege wach und denke, wie gut es all den braven Bürgern jetzt geht, denn brave Bürger schlafen nachts ruhig in ihren Betten von Ikea.
Alles, was ich wollte, wenn ich einmal groß und für mich selbst verantwortlich bin, war eine gute Erklärung. Und jetzt laufe ich barfüßig über Scherben.
Es gibt Nächte, in denen ich nicht weiß, wohin ich meine Sehnsucht tragen soll. Meine unbändige Lust auf Frühling und blühende Narzissen. Ein Waldspaziergang wäre jetzt schön, denke ich, auch wenn es kalt ist und Nacht ist, aber ganz grundsätzlich sollte man doch eher antizyklisch leben statt mit dem Strom zu schwimmen. Andererseits führt der Strom immer ins Meer und da wollen wir doch alle mal hin.
Manchmal frage ich mich, wie ich an so viele falsche Menschen geraten konnte und wo denn dann all die richtigen sind. Und dann stelle ich wie zufällig fest, dass die richtigen trotzdem irgendwie immer zu einander finden, weil so groß ist die Welt ja auch wieder nicht.
Jedenfalls gibt es diese Nächte, da ist an Schlaf nicht zu denken, da drehe ich mich von der einen auf die andere Seite und freue mich, wenn in ein paar Stunden der neue Tag beginnt.
Und wenn er dann da ist und das erste Morgengrauen sich durch das Dunkel der Nacht bricht, dann werde ich müde. In der Sicherheit des Tageslichts würde ich am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und einfach nur schlafen.
Monatsarchiv: Januar 2023
Wer wir sind
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Sonntag
Ein ruhiger Sonntag vor dem Ansturm auf die neue Woche. Es ist nicht so weiß, wie ich es gern hätte, aber immerhin liegt der Schnee noch und richtig kalt ist es auch. Ich könnte jetzt gut einige Wochen Urlaub vertragen, am liebsten irgendwo in den Bergen, wo eine dicke Schneedecke über der Welt liegt und es bei jedem Schritt knirscht. Es geht aber ungebremst weiter mit dem Leben und dem ganzen Rest.
Meine Zeit und Aufmerksamkeit gehört nächste Woche vor allem dem Dschingis Khan des Nordens, dem besten Freund des Chaosprinzen. Der hockt nämlich in einem riesigen Durcheinander. Seine Schule hat ihm den Ausbildungsvertrag gekündigt, eine neue Schule ist noch nicht gefunden, und so saß gestern seine Mama erschöpft und überfordert vor mir und sprach davon, wie gern sie diesem ganzen bürokratischen Dschungel entfliehen würde. Der Dschingis Khan des Nordens übersetzte, so gut es eben ging mit einem dicken Kloß im Hals.
Der Dschingis Khans des Nordens lebt mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern seit über acht Jahren in einem beengten Raum mit Gemeinschaftsküche und Sammelbad, aber ohne Hoffnung darauf, wie es überhaupt mit ihnen weitergehen könnte. Seit wir ihn kennen, spricht der Junge sehnsüchtig davon, wie sie eines Tages, wenn es für sie wieder sicher ist, in die Heimat zurückkehren werden. Eine Sehnsucht, mit der die Eltern ihn täglich füttern, obwohl sie überhaupt nicht vorhaben, zurückzugehen. In Ermangelung eines qualifizierten Dolmetschers muss der Dschingis Khan überall für seine Eltern übersetzen, seit er der deutschen Sprache mächtig ist, und trägt damit eine Verantwortung, die viel zu schwer ist für seine schmalen Schultern. Der Druck ist so groß, die Verzweiflung viel zu viel für dieses Kind. Und so gibt der Dschingis Khan des Nordens diesen Druck in der Schule ab, wenn er mit anderen Kindern in Konflikt gerät. Die Schule kommunizierte den Eltern diese Problematik auf den Elternsprechtagen. Übersetzen musste das wieder der Dschingis Khan des Nordens und auf den Kopf gefallen ist der Junge ja nun nicht. Das Bild, das sich von der Situation für die Eltern zeichnete, war demnach keinesfalls ein vollständiges. Und so schaukelte sich die Lage immer weiter hoch, bis die Schule im November schließlich die Kündigung aussprach.
Viel ist seitdem nicht passiert. Der Druck wuchs unbemerkt ins Unermessliche und am Freitag bat der Dschingis Khan des Nordens in einer verhaltenen whatsapp um Hilfe. Entsetzt versuchte ich, mir ein Bild der Gesamtlange zu machen. Ich rief seine Klassenlehrerin an, die sich ausreichend Zeit nahm, mir etwas überspannt ihr grenzenloses Desinteresse an dem Jungen zu versichern. Ich bat um einen Aufschub bis Ende nächster Woche. Obwohl die Schule gesetzlich dazu verpflichtet ist, das Kind bis zum Eintritt in die neue Schule zu beschulen, gab sie meiner Bitte nur widerwillig nach. Das sei das Kind nicht wert, erklärte sie mir, und dass eine neue Schule für den Dschingis Khan wohl kaum zu finden sein würde. Das habe sie auch den Eltern gesagt, worauf diese nun überlegten, in ihre Heimat zurückzugehen. Das, sagte die Lehrerin, wäre wohl auch die beste Lösung. Für wen, das sagte sie nicht.
Einen Plan habe ich noch nicht. Ich habe einige Menschen angerufen, einige Bitten formuliert, einige Möglichkeiten eruiert. Mit einer wundervollen Therapeutin gesprochen, die mir sofort einen Platz für den Jungen angeboten hat. Mit einer herzensguten Gemeindereferentin, die versprach, sich für die Finanzierung der Therapie einzusetzen, sollte die Bürokratie querschlagen. Mit einer ehemaligen Sozialarbeiterin, einer befreundeten Lehrerin. Wenn alle, mit denen ich ab morgen in Kontakt treten werde, ein winziges bisschen Wohlwollen zeigen würden, nur etwas guten Willen der Entscheider, darum bitte ich an diesem Sonntag Gott, den Allmächtigen.
Draußen fischen die Jungs unbeschwert dicke Scheiben Eis aus dem maroden Gartenteich und lassen sie auf der Terrasse in tausend Stücke zerschellen. Aus dem Meer an Eisbrocken holen sie hin und wieder einen heraus, um ihn mir durch die Glasscheibe zu zeigen. Bis sie schließlich einen finden, den sie zu einem kleinen Herz schnitzen können. Das kalte Herz legen sie mir vorsichtig durch das Fenster in meine Hand.
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Zeugnistag
Das erste Zeugnis der weiterführenden Schule wurde mit viel Angst und Unbehagen erwartet. Obwohl die schriftlichen Leistungen des Chaosprinzen recht gut sind, ist seine mündliche Beteiligung überall reichlich schlecht. Anders ausgedrückt läuft das Lernen für den Prinzen ganz gut, das Gelernte aber auch im Unterricht zu kommunizieren, klappt überhaupt nicht. Im Hintergrund dieser mangelnden Mitteilsamkeit steht die Angst, ausgelacht zu werden. Erfahrungen, die der Chaosprinz in der Grundschule leider häufig machen musste.
Zeugnisse, also. Ich werde nicht müde, dem Chaosprinzen immer wieder zu versichern, dass diese Zahlenskala eine völlig willkürliche ist. Dass eine Zahl zwischen Eins und Sechs lediglich die unzureichende Perzeption des Lehrers wiedergibt, nicht aber den tatsächlichen Wissenstand des Schülers. Dass Bewertungen subjektiv sind. Ich erkläre ihm jedes Semester, was Ermessensspielräume der Lehrer sind. Dass Lehrer auch nur Menschen sind, die mit Wasser kochen, und dass ich viele von ihnen selbst gerne mal unterrichten würde. In deutscher Grammatik und Rechtschreibung zum Beispiel.
Es nützt nicht viel, dass seine Mutter, selbst Opfer des deutschen Schulbetriebs und trotzdem Trägerin der allgemeinen Hochschulreifemedaille und Besitzerin eines validen Universitätsdiploms, Zeugnisse nicht so furchtbar wichtig nimmt, der Chaosprinz fühlt sich jedes Semester am Zeugnistag schlecht. Deshalb spielen wir seit heute ein neues Spiel in diesem Haus, das Zeugnisquartett. Und das geht so: Ich suche mein Zeugnis des betreffenden Semesters heraus und dann wird verglichen. Für jede Note, die einer von uns beiden besser ist als der andere, gibt es einen Punkt.
In diesem Semester führt der Chaosprinz mit vier Punkten vor seiner Mutter. Das hebt die Stimmung gewaltig.
Ich bin vor allem erleichtert, dass ich dieses Semester keine langatmigen Gespräche über die weitere Schullaufbahn meines Kindes führen muss, auch wenn die Lehrer mit großen Sorgenfalten darauf blicken. Das ist diesem defizitorientierten System immanent, soviel habe ich in den vergangenen vier Grundschuljahren bereits gelernt. Dass, ganz gleich was das Kind kann, immer nur beobachtet wird, was es nicht kann. Dabei ist es nicht einmal wichtig, ob das tatsächlich so ist. Ein gutes Beispiel dafür lieferte dieses Semester der Mathelehrer, der behauptete, der Chaosprinz würde nie seine Hausaufgaben machen. Beweisen konnte er diese Behauptung nicht und als der Chaosprinz ihm seine Hefte vorlegte, um das Gegenteil zu beweisen, wischte der Mathelehrer sie mit der Ausrede, keine Zeit dafür zu haben, einfach fort. Sowas funktioniert wohl auch nur im Universum Schule.
In den vergangenen Tagen habe ich mich damit befasst, meine Ordner auszumisten. Eine Arbeit, die ich nur sehr ungern mache. Ich hefte alles ab, also keine blauen Mülltüten im Keller, aber ich gucke mir den Kram nur ungern ein zweites Mal an. Jedenfalls fand ich neben meinen alten Zeugnissen auch eine Notiz meiner wundervollen Lehrerin Schwester Angela. Wenn es einen Menschen gibt, dem ich meine Schulbildung zu verdanken habe, dann wohl ihr. Und ganz sicher nicht nur meine Schulbildung.
Nun bin ich in einer völlig anderen Zeit zur Schule gegangen. Obwohl wir auch 36 Schülerinnen in der Klasse waren, hatten unsere Lehrer zum Ziel, uns auch wirklich etwas beizubringen. Wir lagen ihnen am Herzen. Schwester Angela führte das nachmittägliche Silencium, und während ich das schreibe, fällt mir auf, wie viel Arbeit und Mühe ihr das gemacht haben muss. Sie war eine wunderbare Nonne, klein und alt und ehrwürdig, und selbst meine Mutter machte unwillkürlich einen Knicks vor ihr, als sie ihr zum ersten Mal die Hand reichte. Schwester Angela begegnete jeder ihrer Schülerinnen mit ungeheurer Wertschätzung. Nicht, dass sie nicht auch wirklich streng gewesen wäre. So bestand sie auf dem Knicks ihrer Schülerinnen, wenn sie sie nachmittags begrüßten, und auf der Schürze, die wir bis zur achten Klasse tragen mussten, um unsere Kleidung nicht schmutzig zu machen.
Meine Mutter war nur selten in der Schule. Sie arbeitete als Leiterin der Apotheke in einem großen Krankenhaus und hatte keine Zeit, zu Schulaufführungen oder Elternsprechtagen zu kommen. Eines Abends, als wir in der Aula gerade „Mary Poppins“ vor Publikum aufführten, war meine Mutter gekommen, um mich abzuholen. Da sie etwas zu früh war, schlich sie in die Aufführung und drückte sich an die Wand. Schwester Angela saß ganz vorne in der ersten Reihe und sah meine Mutter hereinkommen. Sie winkte sie heran und bot ihr ihren Stuhl an. Dann sah sie sich um und sagte laut vernehmlich: „Ich habe keinen Stuhl!“ Der Direktor, der Konrektor und drei weitere Lehrer standen sofort auf, um ihren Stuhl anzubieten. Meine Mutter blieb auf dem Stuhl sitzen und ich war komplett begeistert, dass sie mir dabei zusah, wie ich als Dienstmädchen Ellen hinter Mrs. Banks her tanzte.
Am nächsten Tag gab Schwester Angela mir eine kleine Notiz für meine Mutter mit, in der sie sich dafür bedankte, dass meine Mutter die Zeit gefunden hatte, zur Aufführung in die Aula zu kommen. Meine Mutter hatte die Notiz behalten, ich fand sie Jahre später in einem der blauen Müllsäcke im Keller und habe sie seither auch aufbewahrt. Sie erinnert mich daran, mit wie viel Wertschätzung und Freundlichkeit, Wohlwollen und Zuneigung Schwester Angela uns begegnet war.
Schwester Angela gibt es schon lange nicht mehr. Sie starb irgendwann in den frühen Neunzigern und ich hab nicht mehr die Gelegenheit bekommen, mich für ihre schützende und führende Hand zu bedanken. Ich hoffe, sie weiß jetzt, wie viel sie mir bedeutet hat, auch wenn ich das damals vielleicht nicht immer zu schätzen gewusst habe.
P.S: Nehmt eure Kinder heute fest in den Arm! Gratuliert ihnen zum Semester, tröstet sie, falls nötig, und macht euch klar, dass Noten nichts sind, was eure Kinder auch nur im Ansatz definiert. Draußen fällt leise der Schnee, und der wird vielleicht auch in vierzig Jahren fallen, wenn eure Kinder auf den heutigen Tag zurückblicken und sich erinnern, wie es für sie war am Zeugnistag.
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Heiligabend
Was planst du für Weihnachten, frage ich meine Freundin über Viber.
Nichts, sagt sie, ich werde zu Hause sein, allein. Und ihr?
Ich erinnere mich an ein hübsches Kleidchen aus tiefdunkelblauem Samt und weißen Satinschleifen im geflochtenen Haar. Seit dem frühen Morgen hat meine Mutter den Tag in der Küche verbracht, ich war überall im Weg. Am Vormittag durfte ich im ganzen sorgfältig geputzten Wohnzimmer einen Sack Heu auf dem Boden verteilen. Jetzt dämmert es schon langsam. Der Esstisch ist festlich gedeckt, für uns Kinder ist der Küchentisch vorgesehen, ich wippe ungeduldig auf meinem Stuhl und warte gespannt auf das erste Klingeln an der Haustür.
Ich erinnere mich an den hübsch geschmückten Weihnachtsbaum, der noch vom 24. Dezember dort steht, und daran, wie meine Mutter eine Schallplatte mit geistlicher Musik auflegt. Auf dem Herd kocht der Raki und verströmt einen süßlichen Duft. Wenn sich alle im Wohnzimmer versammeln, wird das Vaterunser gesungen, vier vorher bereitgestellte Walnüsse werden in die vier Himmelsrichtungen geworfen; in den nächsten Wochen werde ich einige von ihnen durch Zufall beim Spielen wiederfinden.
Während die Gäste Platz nehmen, öffnet meine Mutter eine erste Flasche Rotwein, schenkt ein halbes Glas voll ein und schüttet es schwungvoll aus dem Handgelenk über das blütenweiße Damast Tischtuch.
Auf dem Tisch stehen dreizehn unterschiedliche Fastenspeisen, dazwischen hat meine Mutter die polierten silbernen Kerzenständer aus ihrem Elternhaus aufgestellt. Es wird viel gelacht an den Tischen, viel erzählt. Manchmal schleicht eines der Kinder zum Wohnzimmer, um einige Gesprächsfetzen aufzufangen und sie uns am Küchentisch brühwarm zu erzählen. Am Hausaltar brennt das Ewige Licht, um das wir uns nach dem Essen alle versammeln, um gemeinsam das Weihnachtslied zu singen. Dann fahren wir in einem Konvoi zur Kirche.
Von überall strömen sie in dieser Nacht herbei. Manche sind einen langen Weg gefahren, um pünktlich zu sein. Die Kirche ist mit trockenen Eichenzweigen geschmückt, der Boden ist mit Heu bedeckt, der Weihnachtsbaum, der Badnjak, steht hinter der Ikonostase bereit. Während der Liturgie spielen wir Kinder im Vorgarten oder helfen den Frauen in der Küche. Wir freuen uns auf die kleinen Pakete mit Nüssen, Orangen und Süßigkeiten, die wir bekommen werden und auf das große Weihnachtsfeuer. Hin und wieder schlüpfen wir durch die Menschenmengen zu unseren Eltern, um zu sehen, wie weit die Liturgie ist.
Schließlich ertönt der freudige Ruf. Auf den Ausruf des Bischofs „Christ ist geboren!“ antwortet die Gemeinde „Wahrlich, er ist geboren!“ Ab jetzt wird dies der einzige Gruß für die nächsten Tage sein.
Die Popen kommen aus der Kirche auf den Vorplatz, begleitet vom Chor, der das Weihnachtslied singt. Dahinter tragen ein paar starke Männer den Badnjak. Während das Feuer brennt, laufen wir Kinder in die nun leere Kirche und erhalten unsere liebevoll gepackten Pakete, bevor die Erwachsenen wiederkommen, um einen Eichenzweig für Zuhause mitzunehmen. Auf dem Vorplatz werden Sardinenbrötchen und heißer Raki gereicht. In einem der Gläser befindet sich eine Münze, Glück für ein ganzes Jahr.
Eine Gruppe Romamusiker hat ihre Instrumente ausgepackt und spielt am Feuer. Ich werde langsam müde und verschütte etwas Fanta auf meinem Kleid.
Auf dem Heimweg schlafe ich schon im warmen Auto ein. Meine Mutter trägt mich ins Bett. Einmal werde ich kurz wach, dann übermannt mich bleierne Müdigkeit. Am nächsten Morgen, das weiß ich, wird mich der Duft eines frisch gebackenen Brotes, der Cesnica, wecken.
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Am Samstag habe ich meine Hausaufgaben gemacht.
Ich nehme mir vor zu schreiben. Ich nehme mir vor zu schreiben. Ich nehme mir vor zu schreiben, denn Schreiben ist ein Muskel, der trainiert werden will. Und wenn ich auch sonst nicht viel vom Trainieren verstehe, so wenigstens das. Als der Chaosprinz seine ersten Texte für die Schule schreiben musste, habe ich ihm diesen Trick verraten. Schreib immer einen ersten Satz hin, hab ich ihm gesagt, dann ist das Weiß des Papiers gebrochen und die Hemmschwelle überwunden. Gemeinsam suchten wir nach einem, der immer geht. Damals mussten sie montags über ihr Wochenende schreiben. Wir einigten uns auf den Satz: „Am Samstag habe ich meine Hausaufgaben gemacht.“ Fällt das nicht auf?, fragte der Chaosprinz.
Der Chaosprinz hatte dahingehend nichts zu befürchten, denn er meldete sich dafür nie. Er fand, es ginge niemanden etwas an, wie er seine Wochenenden verbrachte, und wunderte sich darüber, warum die übrigen Schüler seiner Klasse so heiß darauf brannten, von ihrem Wochenende zu berichten. Deshalb dachte er sich seine Wochenenderlebnisse einfach aus. Im Sommer war er immer im Schwimmbad, im Winter hatte er immer einen Film geschaut. Etliche Texte, die alle dasselbe enthalten, perfektionierte Eintönigkeit zu gefälligen Sätzen geformt. In vier Jahren wurde er nur ein einziges mal drangenommen. Hinterher berichtete er, dass sie ausgerechnet an jenem Wochenende überhaupt keine Hausaufgaben aufbekommen hatten. Er hatte seinen ersten Satz deshalb einfach weggelassen und nur den erdachten Rest vorgelesen.
Mit dem Neuen Jahr ist es ja so, dass es gerade zu Beginn anfängt zu rennen. Die Zeit rast in einem atemberaubenden Tempo, dass Februar ist, bevor man sich im neuen Jahr überhaupt orientieren konnte. Aus Angst, den Januar auch dieses Jahr wieder komplett zu verpassen, versuche ich mich in bewusster Langsamkeit. Achtsam fülle ich den Wasserbehälter auf, lege den Filter ein, befülle ihn mit Kaffeepulver und sehe dann dabei zu, wie die braune Brühe langsam in die Glaskanne läuft. Die Suppenfreundin ist zur Arbeit gefahren, die Jungs schlafen noch tief. Ich will den frühen Morgen festhalten, aber er gleitet mir aus den Händen und zerschellt auf dem Fliesenboden. In Zeitlupe sehe ich ihn achtsam fallen, kann ihn aber nicht aufhalten. Um mich herum tobt der Alltagswahnsinn aufgelaufener Jahre, darin macht auch das Neue keine größeren Unterschiede. Als würde das Zusammentreffen der Zeiger um Mitternacht des ersten Januars irgendetwas daran ändern. Hoffnung habe ich immer, doch schon in der ersten Woche holt mich die Realität krachend auf die harten Fliesen der Realität zurück.
Die stumpfe Helligkeit, die von draußen kommt und alles in den grauen Farbtopf taucht wie in alten Filmen, fördert nicht gerade meine gute Laune. Ich vermisse die Kälte eines anständigen Winters und die Freuden des strahlenden Schnees. Wie jedes Jahr nehme ich mir auch dieses vor, den kommenden Winter in irgendeinem eingeschneiten, vereisten Kaff an einem warmen Kamin zu verbringen, eingewickelt in meine selbstgestrickte Restedecke, Bettsocken an den Füßen und einen weichen Loop um meinen Hals. Ich möchte süßen, goldfarbenen Kräutertee aus einer bauchigen Kanne und leckere Plätzchen, die von Weihnachten übrig geblieben sind. Ein gutes Buch in meiner Hand, von dem ich von Zeit zu Zeit aufblicke, um aus winzigen Sprossenfenstern zu beobachten, wie die Welt da draußen langsam zugrunde geht. So ließe sich die Winterzeit auch gut ertragen. Im kleinen Schachtelhaus, das in seiner luftigen Bauweise auf die Freuden einer wärmeren Jahreszeit abstellt, bieten die bodentiefen Fensterfronten zu allen Seiten einen mehr als tristen Blick auf das angegraute Ambiente. Da helfen auch die selbstgestrickten Socken und der goldwarme, süße Pfefferminztee aus der bauchigen Kanne nur wenig. Dabei fällt mir ein, dass ich heute ja noch Plätzchen backen wollte, denn morgen ist Heiligabend.
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Frohes Neues Jahr
Nun ist das Neue Jahr endlich da und mit ihm die Euphorie eines Neubeginns. In weißer Weste präsentiert sich 2023 der Welt und verspricht unendlich viele Möglichkeiten. Alles soll besser werden, man will es zukünftig anders machen, denn wir wissen ja alle, was eigentlich richtig wäre. Dass der beste Vorsatz schnell im Alltagssumpf versinkt, mit zunehmendem Alter übrigens viel schneller, so scheint mir, darüber denkt niemand nach an diesem ersten Ersten, der noch so jungfräulich zart in seinen Kinderschuhen steckt. Noch ist die erste Zigarette nicht geraucht, das Frühstück war eine gesunde Wahl und auf dem Herd kocht das ausgewogene Mittagessen. Noch sind keine bösen Worte gefallen, der Stress wird am Neujahrstag keine Chance gelassen.
Und so habe auch ich meinen Vorsatz, keine Neujahrsvorsätze mehr zu fassen, über Bord geworfen, und trotzdem welche gefasst. Passend zum Wort des Tages im Nachbarblog betrete ich meine persönliche Drehtür in der Hoffnung auf neue Räume. Viel ist es nicht, was ich mir zum Vorsatz gemacht habe. Es sind eher die Kleinigkeiten, die mich an mir und meinem Leben stören, aber meine Mutter sagte immer, dass es der Gott der kleinen Dinge ist, der große Veränderungen bewirken kann. Hier ein Klecks, da ein Strich und mit ein klein wenig Glück und viel gutem Willen entsteht ein Bild, das man gern betrachtet.
Große Veränderungen, so meine Mutter weiter, entstehen ohnehin meist zufällig. Oft hat man sie auch gar nicht in der Hand. Das Schicksal, die große unbekannte Konstante, spielt ihr zufälliges Spiel. Dahinter verbirgt sich keine versteckte Taktik, dem Universum sind die Spielfiguren gleichgültig, die über das Feld geschoben werden. Ein Orkan entsteht für gewöhnlich ohne das eigene Zutun, dagegen kann man nicht viel tun, außer die eigenen Fenster zu verbrettern. Und mit ein bisschen Glück ist es nur ein wenig Regen, den die Winde schnell weiterschieben.
Beim Nachlesen fällt mir auf, dass ich gar nicht beabsichtigt hatte, es so fatalistisch klingen zu lassen. Manchmal betrachte ich die Welt in all ihrer Unvollkommenheit, als sei ich kein Teil von ihr. Ich sehe Ungerechtigkeit, Armut und Kriege. Ich entdecke ein Ausmaß an Not, Leid und Elend und beobachte als Antwort darauf Kälte, Gleichgültigkeit und Härte. Niedergeschlagen ziehe ich dann Vergleiche zwischen mir und der Welt und frage mich, wie viel ich dem entgegenzusetzen habe. Die Antwort darauf ist: rein gar nichts! Ich besitze nichts, um die Welt zu einem freundlicheren, helleren und gerechteren Ort zu machen. Seien wir realistisch, dafür bräuchte man einen Feenstab. Am besten gleich mehrere.
Das kann einen schon mutlos machen, oder? Und aus großer Mutlosigkeit erwächst Resignation. Bei Chuck Palahniuk las ich einmal von einem Experiment, bei dem den Probanden Fotos unterschiedlich starker Paradontosegrade gezeigt wurden. Der ersten Gruppe wurde ein schwacher Befall gezeigt, der zweiten ein mittlerer und der dritten Gruppe schließlich die stärkste Krankheitsprogression. Anschließend hat man einige Zeit lang das Zahnputzverhalten der Gruppen beobachtet und folgendes festgestellt: Die erste Gruppe änderte ihr Putzverhalten kaum. Die zweite Gruppe begann, ihre Zahnputzgewohnheiten zu intensivieren. Und die dritte Gruppe? Die putzte fortan viel weniger ihre Zähne. Die vermeintliche Übermacht der Paradontitis ließ sie einfach aufgeben.
Keine Ahnung, ob es das Experiment wirklich gegeben hat, aber ich kann das sehr gut verstehen, denn manchmal fühle ich mich ganz genauso. Dann will ich aufgeben, noch ehe ich die Drehtür überhaupt erreicht habe. Aber wer nicht kämpft, sagt die weise Freundin, der hat bereits verloren.
Das ist also mein Vorsatz für das Neue Jahr – einer, den ich jährlich fasse, seit ich bewusst denken kann. Eigentlich müsste ich ihn täglich neu fassen, jeden Tag zum Neujahrstag machen, um ihn nicht auffressen zu lassen vom Alltagsmonster.
Ich wünsche euch allen ein glückliches, zufriedenes und gesegnetes Neues Jahr 2023.
Lasst euch nicht entmutigen!

Das Bild zeigt das Ergebnis eines Silvesterexperiments des Chaosprinzen.
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