Das erste Zeugnis der weiterführenden Schule wurde mit viel Angst und Unbehagen erwartet. Obwohl die schriftlichen Leistungen des Chaosprinzen recht gut sind, ist seine mündliche Beteiligung überall reichlich schlecht. Anders ausgedrückt läuft das Lernen für den Prinzen ganz gut, das Gelernte aber auch im Unterricht zu kommunizieren, klappt überhaupt nicht. Im Hintergrund dieser mangelnden Mitteilsamkeit steht die Angst, ausgelacht zu werden. Erfahrungen, die der Chaosprinz in der Grundschule leider häufig machen musste.
Zeugnisse, also. Ich werde nicht müde, dem Chaosprinzen immer wieder zu versichern, dass diese Zahlenskala eine völlig willkürliche ist. Dass eine Zahl zwischen Eins und Sechs lediglich die unzureichende Perzeption des Lehrers wiedergibt, nicht aber den tatsächlichen Wissenstand des Schülers. Dass Bewertungen subjektiv sind. Ich erkläre ihm jedes Semester, was Ermessensspielräume der Lehrer sind. Dass Lehrer auch nur Menschen sind, die mit Wasser kochen, und dass ich viele von ihnen selbst gerne mal unterrichten würde. In deutscher Grammatik und Rechtschreibung zum Beispiel.
Es nützt nicht viel, dass seine Mutter, selbst Opfer des deutschen Schulbetriebs und trotzdem Trägerin der allgemeinen Hochschulreifemedaille und Besitzerin eines validen Universitätsdiploms, Zeugnisse nicht so furchtbar wichtig nimmt, der Chaosprinz fühlt sich jedes Semester am Zeugnistag schlecht. Deshalb spielen wir seit heute ein neues Spiel in diesem Haus, das Zeugnisquartett. Und das geht so: Ich suche mein Zeugnis des betreffenden Semesters heraus und dann wird verglichen. Für jede Note, die einer von uns beiden besser ist als der andere, gibt es einen Punkt.
In diesem Semester führt der Chaosprinz mit vier Punkten vor seiner Mutter. Das hebt die Stimmung gewaltig.
Ich bin vor allem erleichtert, dass ich dieses Semester keine langatmigen Gespräche über die weitere Schullaufbahn meines Kindes führen muss, auch wenn die Lehrer mit großen Sorgenfalten darauf blicken. Das ist diesem defizitorientierten System immanent, soviel habe ich in den vergangenen vier Grundschuljahren bereits gelernt. Dass, ganz gleich was das Kind kann, immer nur beobachtet wird, was es nicht kann. Dabei ist es nicht einmal wichtig, ob das tatsächlich so ist. Ein gutes Beispiel dafür lieferte dieses Semester der Mathelehrer, der behauptete, der Chaosprinz würde nie seine Hausaufgaben machen. Beweisen konnte er diese Behauptung nicht und als der Chaosprinz ihm seine Hefte vorlegte, um das Gegenteil zu beweisen, wischte der Mathelehrer sie mit der Ausrede, keine Zeit dafür zu haben, einfach fort. Sowas funktioniert wohl auch nur im Universum Schule.
In den vergangenen Tagen habe ich mich damit befasst, meine Ordner auszumisten. Eine Arbeit, die ich nur sehr ungern mache. Ich hefte alles ab, also keine blauen Mülltüten im Keller, aber ich gucke mir den Kram nur ungern ein zweites Mal an. Jedenfalls fand ich neben meinen alten Zeugnissen auch eine Notiz meiner wundervollen Lehrerin Schwester Angela. Wenn es einen Menschen gibt, dem ich meine Schulbildung zu verdanken habe, dann wohl ihr. Und ganz sicher nicht nur meine Schulbildung.
Nun bin ich in einer völlig anderen Zeit zur Schule gegangen. Obwohl wir auch 36 Schülerinnen in der Klasse waren, hatten unsere Lehrer zum Ziel, uns auch wirklich etwas beizubringen. Wir lagen ihnen am Herzen. Schwester Angela führte das nachmittägliche Silencium, und während ich das schreibe, fällt mir auf, wie viel Arbeit und Mühe ihr das gemacht haben muss. Sie war eine wunderbare Nonne, klein und alt und ehrwürdig, und selbst meine Mutter machte unwillkürlich einen Knicks vor ihr, als sie ihr zum ersten Mal die Hand reichte. Schwester Angela begegnete jeder ihrer Schülerinnen mit ungeheurer Wertschätzung. Nicht, dass sie nicht auch wirklich streng gewesen wäre. So bestand sie auf dem Knicks ihrer Schülerinnen, wenn sie sie nachmittags begrüßten, und auf der Schürze, die wir bis zur achten Klasse tragen mussten, um unsere Kleidung nicht schmutzig zu machen.
Meine Mutter war nur selten in der Schule. Sie arbeitete als Leiterin der Apotheke in einem großen Krankenhaus und hatte keine Zeit, zu Schulaufführungen oder Elternsprechtagen zu kommen. Eines Abends, als wir in der Aula gerade „Mary Poppins“ vor Publikum aufführten, war meine Mutter gekommen, um mich abzuholen. Da sie etwas zu früh war, schlich sie in die Aufführung und drückte sich an die Wand. Schwester Angela saß ganz vorne in der ersten Reihe und sah meine Mutter hereinkommen. Sie winkte sie heran und bot ihr ihren Stuhl an. Dann sah sie sich um und sagte laut vernehmlich: „Ich habe keinen Stuhl!“ Der Direktor, der Konrektor und drei weitere Lehrer standen sofort auf, um ihren Stuhl anzubieten. Meine Mutter blieb auf dem Stuhl sitzen und ich war komplett begeistert, dass sie mir dabei zusah, wie ich als Dienstmädchen Ellen hinter Mrs. Banks her tanzte.
Am nächsten Tag gab Schwester Angela mir eine kleine Notiz für meine Mutter mit, in der sie sich dafür bedankte, dass meine Mutter die Zeit gefunden hatte, zur Aufführung in die Aula zu kommen. Meine Mutter hatte die Notiz behalten, ich fand sie Jahre später in einem der blauen Müllsäcke im Keller und habe sie seither auch aufbewahrt. Sie erinnert mich daran, mit wie viel Wertschätzung und Freundlichkeit, Wohlwollen und Zuneigung Schwester Angela uns begegnet war.
Schwester Angela gibt es schon lange nicht mehr. Sie starb irgendwann in den frühen Neunzigern und ich hab nicht mehr die Gelegenheit bekommen, mich für ihre schützende und führende Hand zu bedanken. Ich hoffe, sie weiß jetzt, wie viel sie mir bedeutet hat, auch wenn ich das damals vielleicht nicht immer zu schätzen gewusst habe.
P.S: Nehmt eure Kinder heute fest in den Arm! Gratuliert ihnen zum Semester, tröstet sie, falls nötig, und macht euch klar, dass Noten nichts sind, was eure Kinder auch nur im Ansatz definiert. Draußen fällt leise der Schnee, und der wird vielleicht auch in vierzig Jahren fallen, wenn eure Kinder auf den heutigen Tag zurückblicken und sich erinnern, wie es für sie war am Zeugnistag.
Danke sehr! ❤
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Ich liebe diese Idee mit dem Zeugnisquartett. Du bist so großartig erfinderisch, um dem Chaosprinzen zu helfen, davor habe ich riesige Hochachtung. Du bist ganz sicher seine Schwester Angela, die ich euch allerdings auch im Außerhalb als Begleitung sehr sehr wünsche!
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