Sonntag

Ein ruhiger Sonntag vor dem Ansturm auf die neue Woche. Es ist nicht so weiß, wie ich es gern hätte, aber immerhin liegt der Schnee noch und richtig kalt ist es auch. Ich könnte jetzt gut einige Wochen Urlaub vertragen, am liebsten irgendwo in den Bergen, wo eine dicke Schneedecke über der Welt liegt und es bei jedem Schritt knirscht. Es geht aber ungebremst weiter mit dem Leben und dem ganzen Rest.
Meine Zeit und Aufmerksamkeit gehört nächste Woche vor allem dem Dschingis Khan des Nordens, dem besten Freund des Chaosprinzen. Der hockt nämlich in einem riesigen Durcheinander. Seine Schule hat ihm den Ausbildungsvertrag gekündigt, eine neue Schule ist noch nicht gefunden, und so saß gestern seine Mama erschöpft und überfordert vor mir und sprach davon, wie gern sie diesem ganzen bürokratischen Dschungel entfliehen würde. Der Dschingis Khan des Nordens übersetzte, so gut es eben ging mit einem dicken Kloß im Hals.

Der Dschingis Khans des Nordens lebt mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern seit über acht Jahren in einem beengten Raum mit Gemeinschaftsküche und Sammelbad, aber ohne Hoffnung darauf, wie es überhaupt mit ihnen weitergehen könnte. Seit wir ihn kennen, spricht der Junge sehnsüchtig davon, wie sie eines Tages, wenn es für sie wieder sicher ist, in die Heimat zurückkehren werden. Eine Sehnsucht, mit der die Eltern ihn täglich füttern, obwohl sie überhaupt nicht vorhaben, zurückzugehen. In Ermangelung eines qualifizierten Dolmetschers muss der Dschingis Khan überall für seine Eltern übersetzen, seit er der deutschen Sprache mächtig ist, und trägt damit eine Verantwortung, die viel zu schwer ist für seine schmalen Schultern. Der Druck ist so groß, die Verzweiflung viel zu viel für dieses Kind. Und so gibt der Dschingis Khan des Nordens diesen Druck in der Schule ab, wenn er mit anderen Kindern in Konflikt gerät. Die Schule kommunizierte den Eltern diese Problematik auf den Elternsprechtagen. Übersetzen musste das wieder der Dschingis Khan des Nordens und auf den Kopf gefallen ist der Junge ja nun nicht. Das Bild, das sich von der Situation für die Eltern zeichnete, war demnach keinesfalls ein vollständiges. Und so schaukelte sich die Lage immer weiter hoch, bis die Schule im November schließlich die Kündigung aussprach.
Viel ist seitdem nicht passiert. Der Druck wuchs unbemerkt ins Unermessliche und am Freitag bat der Dschingis Khan des Nordens in einer verhaltenen whatsapp um Hilfe. Entsetzt versuchte ich, mir ein Bild der Gesamtlange zu machen. Ich rief seine Klassenlehrerin an, die sich ausreichend Zeit nahm, mir etwas überspannt ihr grenzenloses Desinteresse an dem Jungen zu versichern. Ich bat um einen Aufschub bis Ende nächster Woche. Obwohl die Schule gesetzlich dazu verpflichtet ist, das Kind bis zum Eintritt in die neue Schule zu beschulen, gab sie meiner Bitte nur widerwillig nach. Das sei das Kind nicht wert, erklärte sie mir, und dass eine neue Schule für den Dschingis Khan wohl kaum zu finden sein würde. Das habe sie auch den Eltern gesagt, worauf diese nun überlegten, in ihre Heimat zurückzugehen. Das, sagte die Lehrerin, wäre wohl auch die beste Lösung. Für wen, das sagte sie nicht.
Einen Plan habe ich noch nicht. Ich habe einige Menschen angerufen, einige Bitten formuliert, einige Möglichkeiten eruiert. Mit einer wundervollen Therapeutin gesprochen, die mir sofort einen Platz für den Jungen angeboten hat. Mit einer herzensguten Gemeindereferentin, die versprach, sich für die Finanzierung der Therapie einzusetzen, sollte die Bürokratie querschlagen. Mit einer ehemaligen Sozialarbeiterin, einer befreundeten Lehrerin. Wenn alle, mit denen ich ab morgen in Kontakt treten werde, ein winziges bisschen Wohlwollen zeigen würden, nur etwas guten Willen der Entscheider, darum bitte ich an diesem Sonntag Gott, den Allmächtigen.
Draußen fischen die Jungs unbeschwert dicke Scheiben Eis aus dem maroden Gartenteich und lassen sie auf der Terrasse in tausend Stücke zerschellen. Aus dem Meer an Eisbrocken holen sie hin und wieder einen heraus, um ihn mir durch die Glasscheibe zu zeigen. Bis sie schließlich einen finden, den sie zu einem kleinen Herz schnitzen können. Das kalte Herz legen sie mir vorsichtig durch das Fenster in meine Hand.

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2 Kommentare

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2 Antworten zu “Sonntag

  1. Schwer auszuhalten, was du da schreibst. Meine Gedanken sind bei dem Dhingis Khan des Nordens!

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  2. Es gibt durchaus gute Menschen mit Herzlebensgefühlen…

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