Alle Vöglein sind ausgeflogen, zurück blieben der Kater und ich. Der Kater schätzt meine Gesellschaft nicht, er hat sich in den Keller verzogen. Ich sitze vor der kalten Tasse Kaffee und spiele in meinem Handy Backgammon. Es ist mir nicht aufgefallen, wie es plötzlich still um mich wurde, obwohl alle sich ordentlich verabschiedet hatten und der Kuss des Chaosprinzen noch auf meiner Stirn brennt. Bis mich ein Geräusch von meinem Nichtstun ablenkt, das ich kenne. Ich brauche trotzdem etwas Zeit, es zuzuordnen – die Lüftung vom Laptop.
Die Suppenfreundin war zuletzt am Laptop. Sie hat ihn nicht heruntergefahren. Normalerweise ist sie die Strompolizei im Haushalt. Alles, was wir anlassen, schaltet sie gnadenlos ab, berechtigt oder nicht. Das gilt aber nur für uns, sie selbst lässt das Licht brennen, den Laptop laufen, den Fernseher auf standby.
Es ist ein Charakterfehler der Suppenfreundin, Dinge an anderen Menschen ausgiebig zu kritisieren, obwohl sie sie selbst gar keine Kritik vertragen kann. Wenn ich im Stress mit dem Chaosprinzen bin, weil er nicht will, wie ich es gerne hätte, kommen haufenweise korrigierende Zurufe vom Spielfeldrand. Die Suppenfreundin und ich sind deshalb im Augenblick keine guten Freunde, im Augenblick gehen wir alle drei uns gehörig auf den Zeiger. In solchen Phasen kann der Chaosprinz es der Suppenfreundin auch gar nicht recht machen. Ständig flippt sie bei jeder Kleinigkeit aus, verliert schnell die Geduld und mäkelt am Chaosprinzen herum. Sie ist nicht wütend auf den Chaosprinzen, sie ist wütend auf mich, aber der Chaosprinz gibt ihr den willkommenen Anlass, hemmungslos herum zu motzen.
Ich bin nicht gut dran die letzten Tage. Der Chaosprinz war die Woche krank und aus der Schule kamen stapelweise Arbeitsblätter zum nacharbeiten. Sechs Schulstunden plus Hausaufgaben aus vier Tagen wollten nachgeholt werden. Die Motivation des Prinzen sank auf Minusgrade. Während die Suppenfreundin demente ältere Herren im Park herumschob, schrieben wir Tierbeschreibungen, berechneten Flächeninhalte und legten einen Taschengeldplaner an. Wir lernten Englisch Vokabeln und Possessivbegleiter, suchten weit entfernte Orte im Atlas und legten eine Liste der evolutionären Adaption bei Fledermäusen an. Die Hausarbeit blieb liegen, gegessen wurden Sandwiches und das Wohnzimmer verwandelte sich in eine Lagerhalle für Büroartikel und Erkältungsutensilien. Die Suppenfreundin kam nach der Arbeit jeden Abend in das Chaos unseres Tages, räumte auf, fegte den größten Dreck weg, kochte notdürftig irgend etwas Warmes, ging mit dem Hund raus und fiel danach ins Bett. Die Suppenfreundin ist keine Hausfrau. Sie hat keine Ahnung, wie man einen Staubsauger bedient oder ein Omelette macht, das haben für die Suppenfreundin immer andere gemacht. Die Suppenfreundin kann nur sich selbst versorgen, allenfalls noch ein Haustier, alles darüber mündet schnell in völliger Überforderung. Deshalb haben wir auch keine Zimmerpflanzen.
Da sucht man sich dann Strategien. Meine ist, die Dinge zu priorisieren und die unwichtigen dann einfach unerledigt zu lassen. Nach zwölf Jahren mit einer neurologischen Muskelerkrankung lernt man schnell, seine Kraft einzuteilen, denn tut man es nicht, dann ist sie bereits mittags aufgebraucht. Und wo meine Prioritäten liegen, daraus habe ich ja nie ein Geheimnis gemacht. Der Chaosprinz kommt immer zuerst. Das ist mein Charakterfehler, findet die Suppenfreundin. Und in gewisser Weise hat sie damit sogar Recht. Es gibt doch diese Flugzeuganweisungen, die hinter jeder Sitztasche klemmen. Darin wird ausdrücklich beschrieben, dass man im Notfall die Sauerstoffmaske immer zuerst über das eigene Gesicht zieht, bevor man den Kindern hilft, ihre anzulegen. Der Sinn dahinter ist einleuchtend: Wenn man selbst nicht mehr atmen kann, kann man auch keinem anderen helfen. Aber ist es nicht seltsam, dass ich darüber wirklich lange nachdenken musste? Und mich im Notfall dann doch immer anders entscheiden würde? Manche von uns haben das aber richtig gut drauf. Wir fliegen nicht – aus tausend Gründen – aber würden wir es tun, könnte ich mich im Notfall darauf verlassen, dass die Sauerstoffmaske der Suppenfreundin auf jeden Fall sitzt.
Gestern Mittag fiel wie jeden Freitag der Dschingis Khan des Nordens hier ein. Erleichtert, der Enge seiner Unterkunft zu entkommen, und froh, einen Gleichaltrigen zu sehen. Denn der Dschingis Khan des Nordens sitzt immer noch ohne Schulplatz zu Hause rum und langweilt sich. Sein Fall liegt zwar mittlerweile beim Dezernat der Bezirksregierung, aber da liegt er richtig gut. Nächste Woche ist Karneval und ob bis dahin überhaupt noch etwas entschieden wird, ist im Rheinland eher fraglich. Manchmal denke ich, das wäre doch jetzt eigentlich der perfekte Augenblick, meine Jugendambitionen einer investigativen Journalistin neu aufzulegen. Ich begnüge mich damit, dem Dschingis Khan schweren Herzens Geduld anzuraten.
Immerhin haben wir uns dieses Jahr noch halbwegs rechtzeitig um ein neues Kostüm bemüht. Das alte war schon ein, zwei Nummern zu klein geworden. Jetzt hat der Chaosprinz das gleiche bekommen, nur ein, zwei Nummern zu groß. Es musste ein Frosch sein, ein ganz bestimmter Onesie, den er auch ohne Karneval gern anzieht, da ist der Chaosprinz nämlich eigen. Der Dschingis Khan des Nordens legt derweil für die beiden Jungs eine gute Strategie zur Sammlung von Süßigkeiten auf dem Umzug fest.
Bald fliegen die Vöglein wieder ein. Ich merke es am Kater, der die Ankunftszeit irgendwie immer eine halbe Stunde vorher ahnt. Langsam kommt er die Kellertreppe hinauf, den Schwanz spitz in die Luft gereckt stolziert er am mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen und legt sich auf dem Flurteppich unübersehbar in Pose. Ich werde den Eintrag beenden und dann den Laptop kommentarlos herunterfahren. Heute soll es Pizza geben für die Jungs.
Diese Sache mit der Sauerstoffmaske hat mich zeitlebens irritiert. Welche Mutter würde das denn wirklich schaffen, erst sich die Maske über das Gesicht zu ziehen und danach erst ihrem Kind? Ich finde das vollkommen unrealistisch. und vermutlich liegt genau darin zumindest eine der größten Problematiken des Mutterseins.
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Schlauer wäre das wohl, wenn man es durchdenkt, aber ich könnte es auch nicht.
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Das habe ich gelesen, möchte aber vom fernen, allerfernsten Spielfeldrand stumm bleiben, ganz bei mir selbst gibt es genug zu rufen…so Stücker anderes Leben mitzubekommen, gefällt mir, besonders das mit der verhaltenen Journalistin. Aber ja. Nun habe ich doch was gesagt…
Gute Grüße!
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