Alte Bekannte

Eine neue Woche, ein Theaterbesuch und ein Gespräch, das nie stattgefunden hat. Eine Betrachtung auf das Leben anderer Menschen und die heimliche Erkenntnis, dass es manche gibt, die alles bekommen haben, was sie wollten, und andere, die immer wählen mussten.

Der Chaosprinz ist wieder fit und fährt heute mit der Klasse ins Theater. Montags aufzustehen ist für uns alle die Hölle. Irgendwie schaffen wir es, eine Viertelstunde vor Abflug alle im schwachen Schein der Sparleuchte am kleinen Frühstückstisch zu sitzen. Vor mir dampft ein milchig wässriges Getränk, Kaffee offenbar, der Chaosprinz lässt lustlos seine Cerealien in der Hafermilch matschig werden. Die Suppenfreundin blättert schweigend durch die Schlagzeilen des Tages. Ein Bild, wie man es nicht im Kopf hatte, als man sich nach einer eigenen Familie sehnte. Im Alltag sind halt öfter mal Abstriche zu machen. Ein Morgen wie aus der Nutellawerbung ist ein Ideal, und wir alle verlieben uns in Ideale.

In der Sache mit der vermeintlich Obdachlosen hat sich nichts mehr getan. Genaugenommen unternehme ich nichts mehr darin und so langsam verschwindet auch mein Groll darüber. Als ich noch dachte, helfen zu können, hatte ich einen Priester aus meiner Schulzeit angerufen. Er hat jetzt eine Gemeinde im Zentrum und die Freundin hatte ihn bereits dreimal kontaktiert. Ich wollte mich mit ihm besprechen, ob er bereits etwas erreicht hatte und wie man jetzt weiter vorgehen könnte, und bat deshalb seine Sekretärin um einen Rückruf. Der ist nie erfolgt und heute bin ich dankbar dafür. Das Gespräch, das beinahe stattgefunden hätte, geistert trotzdem durch meine Gedanken. Sätze, die ich mir vorsichtshalber zurecht gelegt und dann nicht gebraucht hatte, die mein Kurzzeitgedächtnis nun getrost verlassen könnten.
Ich wäre nervös gewesen vor diesem Gespräch. Denn der Priester und ich waren nach meinem Abitur in so etwas wie Unfrieden auseinander gegangen. Genaugenommen war ich unzufrieden, ihm wird es wohl eher gleichgültig gewesen sein.

Übers Wochenende war wieder der Dschingis Khan des Nordens hier. Er aß brav den ungeliebten Blumenkohlauflauf mit Kartoffeln mit, räumte mit dem Chaosprinzen das Kinderzimmer auf und verwandelte es gleich darauf wieder mit ihm in eine Chaoshöhle. Und nebenbei erzählte er uns, seine Eltern fänden, er sei zu alt für ein Kostüm und kauften ihm deshalb dieses Jahr keines. Das machte nicht nur den Dschingis Khan des Nordens traurig, sondern auch mich. Als Rheinländerin mit Migrationshintergrund gibt es keinen einzigen Karneval, den ich habe ausfallen lassen. An manche erinnere ich mich noch gut, an andere nicht mehr so richtig. Jedenfalls ist Karneval keine Frage der Wahl im Rheinland. Gefällt es dir nicht, dann zieh halt in ein anderes Bundesland. Bei uns gibt es Brings und Bläck Fööss, Umzüge und jede Menge Kamelle, Strüßche und Bützje, Kölschstangen, halve Hähne und Alaafrufe! Zu alt wird man dafür nicht. Auch mit Zweiundneunzig nicht! Und so verbrachte ich einige Zeit des Wochenendes damit, dem Dschingis Khan des Nordens ein geeignetes Kostüm zu suchen.

Man wird älter, man entwickelt sich, so Gott will, man begreift, dass Wut und Ärger etwas ist, was nur einem selbst schadet, und Vergebung deshalb unausweichlich zum Leben dazu gehört. Man pflegt seinen Glauben und erkennt, dass der Richter über die Welt und alles, was es auf ihr an Verbrechen und Ungerechtigkeiten gibt, ein Anderer, ein Größerer ist. Das packt einem eine ungeheure Last von den Schultern.
Der Priester hat damals mit seinem Glauben arg gehadert. Er war jung, umgeben von einem Haufen pubertierender Mädchen, die ihn mit lang getuschten Wimpern und sorgfältig bemalten Lippen von der Schulbank aus anhimmelten. Die sich haufenweise Probleme ausdachten, nur um in seine Seelsorgesprechstunde zu kommen. So ein Priester ist eine sichere Bank für die erste Schwärmerei, ähnlich einem Schauspieler oder Rockstar, dem man ohnehin nie begegnen würde. Wie weit das Ganze nun tatsächlich gegangen war, darüber gab es lediglich ein paar unzuverlässige Gerüchte, die durch die Schulflure flüsterten. Für den Priester wurde die Situation jedenfalls reichlich unbequem und nach nur drei Jahren an der Schule hielt er im Abschlussgottesdienst anstelle der Predigt eine flammende Rede vor der im Dom versammelten Schule, in der er nicht nur seinen Rücktritt bekanntgab, sondern auch detailliert die Umstände, die zu seiner Entscheidung geführt hatten. Das war damals schon ein mittlerer Skandal. Ich verstand auch nur die Hälfte davon und fand, der Priester hätte sich preiswert aus seiner Verantwortung für die Schülerinnen herausgezogen. Lange Jahre nahm ich ihm das insgeheim sehr übel.

Mitte März organisiert der Bürgerverein einen gemeinsamen Frühjahrsputz. An zwei Nachmittagen wird kollektiv der Müll zusammengesammelt. Unter anfänglichem, schwachen Protest habe ich die Jungs dafür angemeldet. Ich habe ihnen erklärt, dass, wenn sie es nicht tun, es niemand tun wird. Das konnten sie gut nachvollziehen und freuen sich nun darauf, mit Warnweste und Gartenhandschuhen durchs Dorf zu ziehen.

Man wird älter und abgeklärter. Man erfährt Dinge, von denen man lieber nicht erfahren hätte, begreift, dass wir uns auf der Welt wie der Globus selbst unablässig umeinander drehen, manchmal links, manchmal rechtsherum nehmen wir Kontakte auf und lassen sie wieder fallen. Man liest Geschichten über Arschengel und weise Sprüche gleichmütiger tibetischer Mönche, lernt Distanz und eigene Grenzen kennen. Man versteht, dass man selbst die Hand ist, die gereicht wird, denn sonst tut es niemand. Wir begegnen einander, angeblich immer zweimal, und begleiten einander auf unterschiedlich weiter Strecke und je älter ich werde, desto kostbarer wird mir meine Zeit, und ich fange an zu priorisieren, wem ich diese Zeit schenke. Der obdachlosen Freundin nicht und auch dem alten Priester nicht mehr. Mein Leben hat mit dem vor fünfunddreißig Jahren nicht mehr viel gemein, und ich danke täglich mindestens einmal dafür. Natürlich lässt sich die Vergangenheit nicht einfach abstreifen wie ein viel zu eng gewordener Mantel. Sie wird immer mir gehören, bis zum Schluss bei mir bleiben. Die Lücken in meinem Lebenslauf werden sich niemals schließen lassen, das weiß ich und bin auch bereit, den Preis dafür zu bezahlen.

Der Chaosprinz hat um ein Uhr schulfrei. Die Suppenfreundin ist unterwegs und wird ihn dann gleich abholen. Manchmal frage ich den Chaosprinzen, ob er sich geliebt fühlt. Er begegnet dieser Frage immer mit einer Mischung aus unverhohlenem Unverständnis, aufrichtiger Selbstverständlichkeit und einer winzigen Spur Verlegenheit. Heute soll es Spinat mit Rührei und Püree geben. Und hinterher vielleicht einen Schokopudding mit Vanillesoße.

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3 Kommentare

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3 Antworten zu “Alte Bekannte

  1. Dieses kreative Lebensgespringe am Schluss, ob sich einer geliebt fühlt und was es zu essen gibt…

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