Eisige Kälte

Manchmal, wenn montags früh alles ausgeflogen ist und ich allein zurückbleibe, frage ich mich klammheimlich und ganz leise, wie es mir eigentlich gerade geht. Während ich die Spuren des Wochenendes wegräume, überall die Nerf-Pfeile aus den Ecken hole, damit der Hund sie nicht wieder zerkaut, die Betten frisch beziehe und die Spülmaschine ausräume, führe ich Selbstgespräche, eines von denen, die man überhaupt nur mit sich selbst führen kann, weil niemand sonst die richtigen Fragen zu stellen wüsste. In diesen Momenten bin ich ehrlich, werfe all meine Ängste und Sorgen in den Raum, spreche alte Verletzungen laut aus und konfrontiere mich mit meiner eigenen Verantwortung darin. Dabei fällt mir auf, alle paar Jahre priorisieren sich meine Sorgen und Ängste neu. Seltsam, denke ich manchmal, hätte ich gewusst, dass alles bis hierhin soweit ganz gut ausgeht, hätte ich meine Zeit vielleicht ein wenig genießen können. Daraus sollte man doch für die Zukunft lernen können, denke ich, und sich einfach weniger Sorgen machen, weniger Angst haben, aber ich weiß aus Erfahrung, dass das nicht klappt.

Draußen ist es bitterkalt geworden, Raureif liegt weiß über den Feldern und ausgerechnet heute streikt der öffentliche Nahverkehr. Die Suppenfreundin bringt erst den Chaosprinzen, dann den Dschingis Khan des Nordens zur Schule, bevor sie selbst zur Arbeit fährt. Die Schulen liegen in völlig entgegengesetzten Richtungen. An der Haustür drücke ich den Kindern noch eine warme Tasse Tee in die kalten Hände und winke dem Auto hinterher. Dann schließe ich die Tür und bin froh, heute nicht mehr irgendwo hin zu müssen. Ich rufe in der neuen Schule des Dschingis Khan an, es ist erst sein zweiter Tag und er kommt zu spät zum Unterricht. Immerhin hat er nach fast einem Monat endlich wieder Schule. Bis dahin war es ein weiter Weg und ein harter Kampf. Die Ungerechtigkeit, die dem Dschingis Khan des Nordens hier widerfahren ist, die wird wohl nie jemand gutmachen können oder auch nur wollen. Die Verantwortlichen sind erleichtert, dass die Kuh vom Eis ist, die Konsequenzen daraus muss wohl der Dschingis Khan des Nordens alleine tragen. Das ist so unfair!, rufe ich in den leeren Raum, aber es hallt mir lediglich zurück.

Das kleine Schachtelhaus friert. Durch seine offene Bauweise würde man es bei solchen Temperaturen nur warm bekommen, wenn man ausreichend Geld hätte, die Heizung ordentlich aufzudrehen. Aus diesem Grund besitzt es einen offenen Kamin, aber den darf man ohne zusätzliche Kassette leider nicht mehr anfeuern. Und so ziehe ich mich warm an, wickele mich in meine selbstgestrickte Decke, wärme meine Hände an heißem Tee und warte geduldig auf den Frühling.

In den letzten Tagen hätte ich gerne eine alte Freundschaft wieder neu aufleben lassen. Ich hatte das Handy mehrfach in der Hand, formulierte vor, verwarf, formulierte neu. Ich erinnerte mich an eine Zeit, in der die Dinge anders standen zwischen uns, und wie schön es gewesen war, an der Seite des anderen zu sein. Aber dann erinnerte ich mich wieder daran, warum das manchmal einfach nicht möglich ist.

Es gibt ja Begegnungen, da geht man mit dem Gefühl tief empfundener Dankbarkeit einfach so auseinander. Die Begegnung hat ihren Zweck erfüllt und ein auf beiden Seiten gutes Ende gefunden. Sie wird nicht um eine Episode verlängert, es finden keine weiteren Begegnungen statt und allen Beteiligten ist es recht so.
Verpasst man diesen Augenblick, so scheint mir, ignoriert man dieses vom Schicksal vorgesehene Ende, mündet das über kurz oder lang erst in einem Gefühl lästiger Verpflichtung, dann irgendwann sogar in einem hässlichen Streit. Als versuche das Universum, den Fehler des fortgesetzten Kontakts irgendwie zu korrigieren. Das macht wütend. Weil das tief empfundene Glücksgefühl der Dankbarkeit damit einfach so verschwindet. Lässt man Gras über die Sache wachsen, stellt sich das Gefühl mitunter irgendwann auch wieder ein, und man erinnert sich gern. Die Zeit lässt sich aber nicht mehr zurückholen, soviel ist klar, weshalb sich immer auch eine Spur Bitterkeit zwischen die Erinnerungen mischt.

Und manchmal da hat man gar nicht vor, sich wiederzusehen. Wenn das Schicksal es aber anders plant, trifft man sich ziemlich unverhofft zwischen den Türen der Universität, beim Einkaufen oder auf einem Klassentreffen wieder. Fast wäre man an einander vorbeigelaufen, aber dann erinnert der andere sich an deinen Namen, du drehst dich um und erkennst ihn. Und dann geht man einen Kaffee trinken, tauscht Nummern aus, verspricht, sich zu melden, und tatsächlich meldet man sich bei einander, und plötzlich wächst da eine Freundschaft, aus einem tief empfundenen Gefühl der Dankbarkeit heraus, völlig unverhofft, und schließlich steht da ein riesiger Baum aus Freundschaft und Dankbarkeit, und der Garten blüht.
Selbst im eisigen Winter.

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Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Eisige Kälte

  1. Eiskalt. Klammheimlich. Bitterkeit.
    Und es kommt Dankbarkeit dazu am Ende!

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