Monatsarchiv: März 2023

Versfüße

Und gerade, als ich dachte, der Winter sei nun schon im Abschwung und aus dem eisigen Weiß wird ohnehin nichts mehr, schneit es gestern das kleine Schachtelhaus ein. Der Chaosprinz hat mich mit seinem grippalen Infekt, den er am Freitag aus der Schule mitgebracht hatte, ordentlich angesteckt und so hocken wir fiebernd auf dem Sofa und arbeiten die verpassten Schulstunden nach. Nachts frieren wir und schwitzen dabei fürchterlich, und es wird immer schwieriger, Luft zu bekommen.
Die weiße Landschaft macht nicht den Eindruck, als würde sie jeden Moment wieder tauen und die Krokusse sprießen lassen, obwohl es kalendarisch ja eigentlich schon Frühling sein sollte und die Medien jetzt bereits vor einem rekordverdächtigen Hitzesommer warnen. Alle paar Momente schneit es leise weiter und ich habe wie jeden Winter schon wieder ganz vergessen, wie es sich anfühlt, nicht zu frieren. Von klein auf beschäftigt mich die Frage, was sich eher aushalten ließe, extreme Hitze oder eisige Kälte, und ich weiß es einfach nicht. Ganz so wie das Mädchen. das gern Locken hätte, weil es glatte Haare hat.

Überhaupt ist die Zeit aus dem Rhythmus geraten. Manchmal reicht dafür schon ein einziger Satz. Einer, den man überhaupt nicht erwartet hatte, er kommt wie eine Gewehrkugel aus dem Hinterhalt und trifft mitten ins Ziel. Dann sitzt dir ein fremder Mensch gegenüber und weint ungehemmt in das Taschentuch, das du ihm unbeholfen gereicht hast, während du dich fragst, wie zur Hölle du in diese Unterhaltung geraten bist. Und dieser eine schändliche Satz zieht weitere schändliche Sätze nach sich und ohne Rücksicht fallen immer mehr Worte, bis die gesamte Unterhaltung an ihrem beabsichtigten Höhepunkt angekommen ist und du dich verbal misshandelt fühlst. Für den Rest des Tages ist mir übel. Irgendwann kommt die Suppenfreundin von der Arbeit und legt mir ihre kühlende Hand auf die fiebrige Stirn. Alles wird wieder gut, erinnert sie mich, denn, ganz gleich, was auf dieser Welt mit uns geschieht, unsere göttliche Seele bleibt davon unberührt.

Der Chaosprinz versucht unterdessen, im Anapäst zu dichten. Das neue Thema im Deutschunterricht ist Lyrik und es lässt sich jetzt schon sagen, dass es wohl nicht sein Lieblingsthema wird. Heraus kommt etwas, was entfernt an Dorys Walisch erinnert. Immerhin reimt es sich, wenn auch nicht im Anapäst.
Manchmal, verrate ich dem Chaosprinzen, schreibt sich so ein Gedicht von ganz allein. Vor allem dann, wenn du emotional beteiligt bist. Deshalb handeln die meisten Gedichte von verflossener Liebe, weil niemand dabei emotional unbeteiligt bleiben kann, und außerdem reimen sich unendlich viele Worte auf „verlassen“.
Und manchmal, verrate ich ihm weiter, da quält sich jede Zeile mit dir, da fällt dir auf „Mann“ nur der Reim „Zahn“ ein und was soll daraus schon für ein Gedicht werden, wenn du lediglich feststellen kannst, dass das lyrische Ich über ein Gebiss verfügt. Schließlich ist keiner von uns Kurt Tucholsky, strenggenommen war nicht einmal Kurt Tucholsky Kurt Tucholsky, zumindest nicht durchgehend.

Der Chaosprinz nickt verständig, er versteht aber nicht, weshalb seine Mutter beim Thema Lyrik plötzlich so emotional wird. Dabei liegt es ja gar nicht am Thema, sondern am Fieber, am Schnee im März und an den schlaflosen Nächten, die sich wieder einmal anhäufen wie der Schneefall auf der Schräge des Dachfensters. Wenn die Dunkelheit hereinbricht und die Einsamkeit überwältigt und es bis kurz vor Morgendämmerung so unfassbar tiefdunkel wird, die letzte Stunde so schwarz wie ein Versprechen, dass der neue Tag bald aufziehen wird, ganz gewiss wird er das, und was möchtest du dann bei Tageslicht betrachtet mit deinem Leben eigentlich anfangen? Jedenfalls keine Gedichte schreiben, findet der Chaosprinz, und schon gar nicht im Anapäst.

Manchmal ist es nicht einmal ein Satz, sage ich dem Chaosprinzen, bevor wir das Deutschheft zuschlagen und uns dem Volumen von Quadern zuwenden, manchmal reicht schon ein einziges, mächtiges Adjektiv, um alles kippen zu lassen. Die Rettung, sage ich dem Chaosprinzen, liegt dann darin, den Rest des Satzes so zu arrangieren, dass das betreffende Adjektiv an Wortgewalt verliert, damit sich der Sinn der Aussage insgesamt abschwächt. Das ist zwar nicht immer die eleganteste Lösung, aber wenn dir die Argumente ohnehin langsam ausgehen, kann dieser Kniff dir durchaus schon mal die Nacht retten. Und dann kannst du endlich ein paar Stunden schlafen und darauf warten, dass der Schnee taut und die Krokusse aus der Erde brechen.

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