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Am Samstag habe ich meine Hausaufgaben gemacht.

Ich nehme mir vor zu schreiben. Ich nehme mir vor zu schreiben. Ich nehme mir vor zu schreiben, denn Schreiben ist ein Muskel, der trainiert werden will. Und wenn ich auch sonst nicht viel vom Trainieren verstehe, so wenigstens das. Als der Chaosprinz seine ersten Texte für die Schule schreiben musste, habe ich ihm diesen Trick verraten. Schreib immer einen ersten Satz hin, hab ich ihm gesagt, dann ist das Weiß des Papiers gebrochen und die Hemmschwelle überwunden. Gemeinsam suchten wir nach einem, der immer geht. Damals mussten sie montags über ihr Wochenende schreiben. Wir einigten uns auf den Satz: „Am Samstag habe ich meine Hausaufgaben gemacht.“ Fällt das nicht auf?, fragte der Chaosprinz.
Der Chaosprinz hatte dahingehend nichts zu befürchten, denn er meldete sich dafür nie. Er fand, es ginge niemanden etwas an, wie er seine Wochenenden verbrachte, und wunderte sich darüber, warum die übrigen Schüler seiner Klasse so heiß darauf brannten, von ihrem Wochenende zu berichten. Deshalb dachte er sich seine Wochenenderlebnisse einfach aus. Im Sommer war er immer im Schwimmbad, im Winter hatte er immer einen Film geschaut. Etliche Texte, die alle dasselbe enthalten, perfektionierte Eintönigkeit zu gefälligen Sätzen geformt. In vier Jahren wurde er nur ein einziges mal drangenommen. Hinterher berichtete er, dass sie ausgerechnet an jenem Wochenende überhaupt keine Hausaufgaben aufbekommen hatten. Er hatte seinen ersten Satz deshalb einfach weggelassen und nur den erdachten Rest vorgelesen.

Mit dem Neuen Jahr ist es ja so, dass es gerade zu Beginn anfängt zu rennen. Die Zeit rast in einem atemberaubenden Tempo, dass Februar ist, bevor man sich im neuen Jahr überhaupt orientieren konnte. Aus Angst, den Januar auch dieses Jahr wieder komplett zu verpassen, versuche ich mich in bewusster Langsamkeit. Achtsam fülle ich den Wasserbehälter auf, lege den Filter ein, befülle ihn mit Kaffeepulver und sehe dann dabei zu, wie die braune Brühe langsam in die Glaskanne läuft. Die Suppenfreundin ist zur Arbeit gefahren, die Jungs schlafen noch tief. Ich will den frühen Morgen festhalten, aber er gleitet mir aus den Händen und zerschellt auf dem Fliesenboden. In Zeitlupe sehe ich ihn achtsam fallen, kann ihn aber nicht aufhalten. Um mich herum tobt der Alltagswahnsinn aufgelaufener Jahre, darin macht auch das Neue keine größeren Unterschiede. Als würde das Zusammentreffen der Zeiger um Mitternacht des ersten Januars irgendetwas daran ändern. Hoffnung habe ich immer, doch schon in der ersten Woche holt mich die Realität krachend auf die harten Fliesen der Realität zurück.

Die stumpfe Helligkeit, die von draußen kommt und alles in den grauen Farbtopf taucht wie in alten Filmen, fördert nicht gerade meine gute Laune. Ich vermisse die Kälte eines anständigen Winters und die Freuden des strahlenden Schnees. Wie jedes Jahr nehme ich mir auch dieses vor, den kommenden Winter in irgendeinem eingeschneiten, vereisten Kaff an einem warmen Kamin zu verbringen, eingewickelt in meine selbstgestrickte Restedecke, Bettsocken an den Füßen und einen weichen Loop um meinen Hals. Ich möchte süßen, goldfarbenen Kräutertee aus einer bauchigen Kanne und leckere Plätzchen, die von Weihnachten übrig geblieben sind. Ein gutes Buch in meiner Hand, von dem ich von Zeit zu Zeit aufblicke, um aus winzigen Sprossenfenstern zu beobachten, wie die Welt da draußen langsam zugrunde geht. So ließe sich die Winterzeit auch gut ertragen. Im kleinen Schachtelhaus, das in seiner luftigen Bauweise auf die Freuden einer wärmeren Jahreszeit abstellt, bieten die bodentiefen Fensterfronten zu allen Seiten einen mehr als tristen Blick auf das angegraute Ambiente. Da helfen auch die selbstgestrickten Socken und der goldwarme, süße Pfefferminztee aus der bauchigen Kanne nur wenig. Dabei fällt mir ein, dass ich heute ja noch Plätzchen backen wollte, denn morgen ist Heiligabend.

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Frohes Neues Jahr

Nun ist das Neue Jahr endlich da und mit ihm die Euphorie eines Neubeginns. In weißer Weste präsentiert sich 2023 der Welt und verspricht unendlich viele Möglichkeiten. Alles soll besser werden, man will es zukünftig anders machen, denn wir wissen ja alle, was eigentlich richtig wäre. Dass der beste Vorsatz schnell im Alltagssumpf versinkt, mit zunehmendem Alter übrigens viel schneller, so scheint mir, darüber denkt niemand nach an diesem ersten Ersten, der noch so jungfräulich zart in seinen Kinderschuhen steckt. Noch ist die erste Zigarette nicht geraucht, das Frühstück war eine gesunde Wahl und auf dem Herd kocht das ausgewogene Mittagessen. Noch sind keine bösen Worte gefallen, der Stress wird am Neujahrstag keine Chance gelassen.

Und so habe auch ich meinen Vorsatz, keine Neujahrsvorsätze mehr zu fassen, über Bord geworfen, und trotzdem welche gefasst. Passend zum Wort des Tages im Nachbarblog betrete ich meine persönliche Drehtür in der Hoffnung auf neue Räume. Viel ist es nicht, was ich mir zum Vorsatz gemacht habe. Es sind eher die Kleinigkeiten, die mich an mir und meinem Leben stören, aber meine Mutter sagte immer, dass es der Gott der kleinen Dinge ist, der große Veränderungen bewirken kann. Hier ein Klecks, da ein Strich und mit ein klein wenig Glück und viel gutem Willen entsteht ein Bild, das man gern betrachtet.

Große Veränderungen, so meine Mutter weiter, entstehen ohnehin meist zufällig. Oft hat man sie auch gar nicht in der Hand. Das Schicksal, die große unbekannte Konstante, spielt ihr zufälliges Spiel. Dahinter verbirgt sich keine versteckte Taktik, dem Universum sind die Spielfiguren gleichgültig, die über das Feld geschoben werden. Ein Orkan entsteht für gewöhnlich ohne das eigene Zutun, dagegen kann man nicht viel tun, außer die eigenen Fenster zu verbrettern. Und mit ein bisschen Glück ist es nur ein wenig Regen, den die Winde schnell weiterschieben.

Beim Nachlesen fällt mir auf, dass ich gar nicht beabsichtigt hatte, es so fatalistisch klingen zu lassen. Manchmal betrachte ich die Welt in all ihrer Unvollkommenheit, als sei ich kein Teil von ihr. Ich sehe Ungerechtigkeit, Armut und Kriege. Ich entdecke ein Ausmaß an Not, Leid und Elend und beobachte als Antwort darauf Kälte, Gleichgültigkeit und Härte. Niedergeschlagen ziehe ich dann Vergleiche zwischen mir und der Welt und frage mich, wie viel ich dem entgegenzusetzen habe. Die Antwort darauf ist: rein gar nichts! Ich besitze nichts, um die Welt zu einem freundlicheren, helleren und gerechteren Ort zu machen. Seien wir realistisch, dafür bräuchte man einen Feenstab. Am besten gleich mehrere.

Das kann einen schon mutlos machen, oder? Und aus großer Mutlosigkeit erwächst Resignation. Bei Chuck Palahniuk las ich einmal von einem Experiment, bei dem den Probanden Fotos unterschiedlich starker Paradontosegrade gezeigt wurden. Der ersten Gruppe wurde ein schwacher Befall gezeigt, der zweiten ein mittlerer und der dritten Gruppe schließlich die stärkste Krankheitsprogression. Anschließend hat man einige Zeit lang das Zahnputzverhalten der Gruppen beobachtet und folgendes festgestellt: Die erste Gruppe änderte ihr Putzverhalten kaum. Die zweite Gruppe begann, ihre Zahnputzgewohnheiten zu intensivieren. Und die dritte Gruppe? Die putzte fortan viel weniger ihre Zähne. Die vermeintliche Übermacht der Paradontitis ließ sie einfach aufgeben.

Keine Ahnung, ob es das Experiment wirklich gegeben hat, aber ich kann das sehr gut verstehen, denn manchmal fühle ich mich ganz genauso. Dann will ich aufgeben, noch ehe ich die Drehtür überhaupt erreicht habe. Aber wer nicht kämpft, sagt die weise Freundin, der hat bereits verloren.
Das ist also mein Vorsatz für das Neue Jahr – einer, den ich jährlich fasse, seit ich bewusst denken kann. Eigentlich müsste ich ihn täglich neu fassen, jeden Tag zum Neujahrstag machen, um ihn nicht auffressen zu lassen vom Alltagsmonster.

Ich wünsche euch allen ein glückliches, zufriedenes und gesegnetes Neues Jahr 2023.

Lasst euch nicht entmutigen!

Das Bild zeigt das Ergebnis eines Silvesterexperiments des Chaosprinzen.

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Jahresrückblick

Als wüsste die Welt, dass der letzte Tag des Jahres angebrochen ist. Graue Wolken schieben sich über das Siebengebirge wie aus einer Filmkulisse. Der Wind animiert das Stillleben im Garten, über den Nachbardächern kann ich einen bunten Drachen fliegen sehen. Im Wohnzimmer noch die Spuren der vergangenen Tage – deutsches Weihnachten, Geschenke auf dem Esstisch, eine wunderschöne Zimmerpflanze, die ich vom Chaosprinzen zum Geburtstag bekam. Träge fließt die Zeit dem Ende dieses Jahres entgegen, der Winter torkelt wie betrunken dahin, so richtig kalt will es gar nicht werden. Nach dem ersten Schnee fiel keiner mehr, um das Grau dieser Zeit zu verwehen. In den Nachbarblogs lese ich in den letzten Tagen vermehrt absatzartige Jahresrückblicke und frage mich, wie viel Antwort solche standardisierten Fragen erlauben. Vielleicht geht es dabei darum, sich an genau die angefragten Details zu erinnern, unverfänglich und deshalb wenig gefährlich.

Um einen Drachen steigen zu lassen, braucht es ein weites Feld, in dessen Mitte man steht, um ihn in jede Richtung mit dem Wind ziehen zu lassen. Das Jahresende verführt dazu, seine Zeit mit einem Rückblick zu verbringen, weil das Datum ein Abschnittsende erzwingt. Genaugenommen wäre dies aber wohl der Tag vor dem nächsten Geburtstag. Für mich fallen kalendarisch diese beiden Daten nur um ein paar Tage auseinander, weshalb ich heute viel Zeit damit verbracht habe, im Blog mein Jahr rückwärts zu lesen. Was dort alles steht und was ich absichtlich ausgelassen habe, weil ich es dem weißen Hintergrund so schwarz nicht zumuten wollte. Tausend Worte, die mir jetzt einfielen, aber kein einziges, um das sterbende Jahr zu beschreiben. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, in den letzten Stunden noch ein anderes Adjektiv finden zu wollen als vergangen. Manche Worte bekommen ohnehin erst eine Bedeutung, wenn man sie nicht ausspricht. Einige gute Erinnerungen aus diesem Jahr werden bleiben und so wie die Welt heute ist, so wird sie morgen auch noch sein.

Jede Minute dieses Tages erscheint mir gleich. Manchmal bricht die Sonne schwach durch die Wolkendecke, Strahlen, die vom Himmel fallen und für den Moment das Grau erhellen. Immer noch wissen wir nicht, wie wir Silvester feiern wollen. Der Chaosprinz hat keine große Lust, sich auf eines der wenigen Gesellschaftsspiele festzulegen und auch beim Essen äußert er keine Präferenzen. Ihm wurde das Knallen untersagt, was er nur widerwillig akzeptiert. Zu verlockend liegen die Böller in den Auslagen und da muss man sich als kleiner Chaosprinz dann schon daran erinnern lassen, dass man ja eigentlich die Umwelt schonen und die Tiere schützen will. Es ist manchmal wirklich schwer, seinem kleinen Magier wahre Werte zu vermitteln, wenn die wahren Werte sich vor der eigenen Haustür als unwahr präsentieren. Ich kann nur eine Handvoll Samen säen, ob etwas daraus wächst, das wird sich zeigen.

Wohin ich heute auch gehe, dahin folgen mir die Wellen. Was ich im alten Jahr zurücklassen will, kann getrost in den Fluten der Zeit versinken. Geschichten, die der Chaosprinz schon alle kennt. Alles, was in diesem Jahr war, ist das Beste, was hat sein können, daran glaube ich fest. Und wie jedes Silvester werde ich mich auch dieses ein klein wenig trotzig in der Mitte eines ehemaligen Ozeans auf ein weites Feld stellen, um meinen kleinen Alltag in einen großen Kontext zu bringen, bereit, ihn in jede Richtung ziehen zu lassen, die der Wind mir vorgibt.

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Rheinisches Durcheinander

Heute früh weckte mich ein seltsamer Traum. Ich glaube, ich war in einem Tempel, zumindest sah es so aus. Aus Marmor gebaute Säulen, die immer wieder kleine Atrien einfassten, in denen Menschen sich bewegten, die ich nicht kannte, um ein Objekt herum, dass ich nicht eindeutig erkennen konnte. Es war sonnig warmer Herbst, was man an dem Einfall goldenen Sonnenlichts durch die Räume erkennen kann und daran, dass es weder zu heiß noch zu kalt war.

Die Tage verbringen der Chaosprinz und ich mit der Systematisierung der Grammatik Arbeitsblätter, die zur Vorbereitung auf die Klassenarbeit aus der Schule gekommen sind. Satzglieder und Wortarten, deklinierbar, konjugierbar, nicht flektierbar. Gemeinsam ordnen wir das Chaos der deutschen Sprache in einer übersichtlichen Mindmap und entdecken die Schönheit der Strukturen. Für die Fälle haben wir uns gestern Abend noch eine kleine Geschichte ausgedacht: Ich stehe morgens auf und schaue in den Garten. Dort entdecke ich einen riesigen Haufen. Ich frage in die Runde der Haustiere: Wer oder was hat in den Garten geschissen? Weil keine Antwort kommt, rufe ich aufgebracht: Wessen Scheiße ist das? Immer noch bekomme ich keine Antwort, deshalb schreie ich wütend: Wem muss ich jetzt eine schallern? Und schließlich, weil sich immer noch keiner bekannt hat, brülle ich: Wen von euch schmeiße ich jetzt aus dem Garten? So lernt sich der Berg deutscher Grammatik deutlich leichter und es läuft tatsächlich ganz gut.

Da war dieser Künstler in diesem Tempel, dessen Kunst niemand verstand und den man deshalb für exzentrisch hielt. Er war das Zentrum, um das sich alles zu bewegen schien, seinetwegen waren all die Menschen im Tempel und als ich das begriff, versuchte ich, seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ein kleines Wesen, flatterig und flüchtig wie ein durchsichtiger Geist, mal siehst du es, dann wieder nicht. Die Menschen um ihn herum liefen einfach an ihm vorbei und bewunderten die Werke an den Säulen oder unterhielten sich miteinander darüber. Die Einsamkeit, in der der Künstler arbeitet, die seltsam distanzierte Bewunderung seines Schaffens durch seine Umwelt und die Art, ihn wie ein auffälliges Kind zu behandeln, hatten ihn über die Jahre zu einem richtigen Arschloch verrohen lassen. Und wie ich sein Verhalten im Traum so beobachte, fällt mir auf, wie wenig ich selbst über die Beziehung zu anderen Menschen weiß.

Warum ich in den letzten Tagen so wenig geschrieben habe: Ich hatte in einem Nachbarblog ein kleines Detail gelesen, das mich verwirrt hatte. Eine Begebenheit, ein Termin, so nah an meinem eigenen Leben, dass ich plötzlich die Befürchtung hatte, erkannt worden zu sein. Denn ich schreibe hier weitgehend anonym. Ich verlinke meinen Blog nicht in meinem Facebook Profil oder einer anderen sozialen Plattform, ich habe in meinem Umfeld kaum jemandem die Webadresse gegeben, und die wenigen Menschen, die sich hierher verirren, können meinen Texten kein Gesicht zuordnen. Das ist kein Zufall, es ist pure Absicht: ich will nicht, dass jemand mich kennt. Das hat viele Gründe, aber der wichtigste ist wohl, dass ich mich selbst nicht so genau kenne. Ich habe nie genug Zeit investiert, mich kennenzulernen, meiner selbst bewusst zu werden, aus Angst, was ich dort alles finden würde. Die einzige Zeit, die ich mit mir selbst verbringe, ist das Schreiben, und da möchte ich ehrlich mit mir sein können.

Demut braucht es, sagte einmal jemand zu mir, die Demut, seinen Platz im Leben zu erkennen und ihn dann nicht zum eigenen Vorteil auszunutzen. Im Traum versuchte ich verzweifelt, an den zartgliedrigen Künstler heranzukommen. Vielleicht wollte ich zum erlesenen Kreis der Eingeweihten gehören, vielleicht wollte ich aber auch nur wissen, worin die Faszination um seine Person lag. Jedenfalls versuchte ich, einen Termin bei ihm zu erhalten und nach einem langen Tag der Überzeugungsarbeit versprach er mir für den nächsten Tag ein Treffen. Im Traum funktioniert Zeit ja bekanntlich ganz anders, deshalb weiß ich nicht genau, wie viele Tage ich im Tempel schon verbracht hatte, jedenfalls zog ich mich abends in mein altgriechisches Schlafgemach zurück und hoffte, er würde sein Wort halten und mir morgen seine Zeit widmen. Denn Zeit funktioniert ja bekanntlich so, dass niemand sie im Überfluss hat und man sie sich deshalb extra nehmen muss für etwas, das einem wichtig ist. Deshalb überkam mich im Traum die Angst, er würde unsere Verabredung am nächsten Tag vielleicht doch noch absagen, kurzfristig, leichtfertig und grundlos, weil etwas anderes ihm wichtiger war.

Es ist vielleicht wie bei einem Gespenst unter dem blau-weiß karierten Bettlaken, das man fasziniert anstarrt, an dem man aber schnell das Interesse verliert, wenn man erst weiß, wer darunter steckt. So wenig Zeit habe ich mit mir verbracht, dass ich mich gar nicht mehr kenne. Weil man seine Zeit nicht mit sich selbst vergeuden sollte, vielmehr sollte man etwas sinnvolles, etwas nützliches mit seiner Zeit anfangen. Sich mit sich selbst zu beschäftigen tut nicht gut und führt in die Sünde des egozentrischen Müßiggangs. Deshalb habe ich ganz absichtlich verpasst, mir Zeit extra für mich selbst zu nehmen. Vielleicht habe ich aber auch Angst, nicht mehr gemocht zu werden, bin ich erst einmal durchschaut. Als könne man mir nicht vertrauen, meiner heuchlerischen Forderung nach sinnvoller Beschäftigung statt hedonistischem Vergnügen, dem sozialen Bild, in dem ich alle Unebenheiten hinter dicken Farbkleksen emsigen Geschäftigseins verstecke. Es ist schwierig sich selbst auszuhalten, seine eigene Menschlichkeit, die alles andere als perfekt ist, die Seiten an sich zu entdecken, die man niemandem zeigen möchte. Denn in Wahrheit gibt es gut gar nicht, es gibt nur besser. Gut genug bedeutet einfach nur nicht so schlecht – und auf dem Boden der Menschlichkeit gilt es wohl, diesen Umstand zu akzeptieren. So verhält sich das mit mir und meinem inneren Kind.

Als im Traum der nächste Tag anbrach, wartete ich nervös auf das Treffen. Immer noch fürchtete ich eine Absage, aber tatsächlich wurde ich abgeholt und in die Räumlichkeiten des Künstlers geführt. Voller Aufregung schaute ich mich um: bunte Bilder überall, ein kreatives Chaos, in dem dringend einmal geputzt werden müsste, hier ein Berg Müll, dort ein unvollendetes Werk. Alles nicht einmal halb so schillernd, wie ich es mir ausgemalt hatte. Glänzendes Gold nur als vereinzelte Kleckse hier und dort. Der ätherische Künstler hatte mich in sein Reich gelassen und sich damit selbst entzaubert. Ich weiß noch, dass ich den Tag bei ihm damit verbrachte, höflich meine Enttäuschung über seine Menschlichkeit zu verbergen, und am Abend damit begann, die glänzende Persönlichkeit des viel bewunderten Künstlers in den Ordner frustrierter Ernüchterung abzuheften. Erst jetzt beim Schreiben fällt mir auf, wie mutig es von diesem empyreisch anmutenden Wesen war, mich in sein gut verborgenes Reich zu lassen und dass ich dort die Zeit ja auch anders hätte verbringen können. Ich hätte über die Unordnung und das Chaos hinwegsehen und mir stattdessen die goldenen Kleckse genauer anschauen und entdecken können, hätte ich dort nur die richtigen Fragen gestellt. Aber wer hat dafür denn schon die Zeit?

Vielleicht wollte mir der Traum aber auch etwas ganz anderes sagen, mir erklären, dass ich mich nur deshalb ständig so einsam fühle, weil all meine Anteile pausenlos damit beschäftigt sind, emsig den Alltag zu perfektionieren, ohne zu viel Zeit zu verlieren. Momos graue Herren blasen ihren schmutzigen Rauch in mein alterndes Gesicht. Wann habe ich damit aufgehört, mir die richtigen Fragen zu stellen, warum bin ich so verroht, dass nicht einmal ich mehr Zeit mit mir verbringen möchte. Ich würde diesem Gedanken gern nachgehen. Ich würde jetzt gern mehr Zeit mit mir verbringen, auch wenn das bedeutet, meine schillernde Persönlichkeit entzaubern zu müssen und zwischen all dem Müll und den unvollendeten Werken nach Gold zu suchen. Aber bald ist schon Mittag und ich habe dem Chaosprinzen versprochen, ihm sein Lieblingsessen zu kochen. Danach wollen wir uns wieder der deutschen Grammatik widmen. Bis zur Klassenarbeit ist es noch eine Woche, wir sollten also keine Zeit verlieren.

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Mein geliebtes Kind,

zu deinem heutigen Geburtstag möchte deine Mutter dir sagen, wie unglaublich stolz sie auf dich ist. Wie dankbar und gesegnet sie sich fühlt, dich ihren Sohn zu nennen. Wie außergewöhnlich und besonders du jeden Augenblick ihres Lebens machst. Und wie glücklich sie ist, wenn sie in deine Augen sieht.

Mein wundervoller Sohn, zu deinem heutigen Geburtstag richtet deine Mutter sich für dich zu ihrer vollen Größe auf – im Rheinland sagen wir: sie macht sich grad!-, bereit, für deine glückliche Zukunft bis vor den Obersten aller Götter zu ziehen. Wer jetzt noch glaubt, du seist leichte Beute, nur weil du noch ein Kind bist, der hat die Löwin in deinem Rücken noch nicht gesehen.

Zu deinem Geburtstag, lieber Chaosprinz, schenke ich dir meine Kraft und all meinen Mut, mein Wissen und meine über Jahrzehnte erworbene Weisheit. Ich schenke dir jedes meiner je geschriebenen Worte und all meine klugen Gedanken. Ich schenke dir all meine Fürsorge und meine Liebe. Für immer.

Es ist mir eine riesige Freude, ein größtes Glück und die höchste Ehre, deine Mutter zu sein.

Ich liebe dich!

Mama

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Kakao zum Frühstück

Wenn der Morgen kommt, kurz bevor der Wecker klingelt, weckt mich mein eigener Biorhythmus. Freundlich flüstert er mir leise ein, dass es jetzt Zeit zum Aufwachen wird. Denn gleich ertönt der Alarm. Und damit ich mich nicht erschrecke, lässt meine autonome Intelligenz mich kurz vorher sanft aufwachen. In den wenigen Minuten zwischen innerem und äußerem Weckruf ist der Morgen um diese Jahreszeit noch ganz still. Ich liege zwischen Traum und Tag, langsam spannen sich die Muskeln an, Bilder des neuen Tages reihen sich vor das innere Auge. Manchmal will ich in diesen Momenten hektisch zum Handy greifen, um zu sehen, ob es tatsächlich kurz vor sechs ist, aber meistens zwinge ich mich zur Langsamkeit und überdenke lieber meine Träume.

Als gäbe es im Leben nur den einen Weg, dem man folgen müsste. Wie auf den Schienen einer Safari oder in der Geisterbahn: Verlassen Sie bitte auf gar keinen Fall den befestigten Weg, wenn Sie nicht erfahren wollen, dass wir Sie nur auf eine Reise durch Ihre eigene Angst schicken. Alles um Sie herum ist lediglich eine große Illusion, aber wenn Sie das erkennen, dann macht es doch gar keinen Spaß mehr. Bleiben Sie also bitte in Ihrem eigenen Interesse auf dem Weg und genießen Sie die von uns zu Ihrer Unterhaltung vorbereitete Dramatik. Und wenn Sie doch unbedingt vom Weg abkommen wollen, dann werden wir Sie ganz sicherlich nicht suchen. Dann haben Sie halt Pech gehabt.

Es ist neu für mich, dass meine innere Uhr mich weckt. Früher bin ich vom Klingeln des Weckers heftig aus einem Traum aufgeschreckt, dessen Inhalt ich zwar nicht mehr wusste, der in mir aber das Gefühl hinterließ, etwas besonders wichtiges vergessen zu haben. Während ich hektisch meine Zähne schrubbte, versuchte ich aus den übrig gebliebenen Fetzen auf den Inhalt des Traums zu schließen. Manchmal erwischte ich noch einen Zipfel, ein Bild wie aus einem Parallelleben, auf dem Balkon in einer Wohnung in der Südstadt. In einem Cabrio unterwegs mit Menschen, die ich schon aus früheren Träumen kenne. Wer weiß, wohin wir da fuhren, aber wir freuten uns darauf. Aus dem Autoradio erklingt Musik, die meinen Körper zum Tanzen auffordert und mich wünschen lässt, ich hätte Schlagzeugspielen gelernt.

Träume ziehen meine Seele nackt aus. Wenn alle anderen weg sind und ich mich ganz alleine im Dunklen wiederfinde, mit nichts weiter als mir selbst. Ich schließe die Augen, um zu sehen, was ich alles sein könnte, wenn ich die wäre, die ich sein wollte. Mit Spannung folge ich der Lebensgeschichte, die sich im Traum vor mir entfaltet. Margriet de Moor schrieb einmal, dass sich „in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist, ein anderes befindet, das man seelenruhig genauso gut hätte führen können“. Wenn der Chaosprinz nur wüsste, wie viele Wege ich genommen habe, wie viele Brücken ich versucht habe zu überqueren, um wenigstens einen guten Kompromiss mit der Landkarte meines Lebens zu erreichen.

„Weißt du, was ich immer mache, wenn der Lehrer mich anschnauzt?“, fragt mein Sohn beim Frühstück. „Ich drücke immer mit meinem Daumennagel ganz fest in meinen Mittelfinger, damit mir das mehr wehtut als die Worte des Lehrers.“

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Herbstbunt

Die Ferien sind vorüber und der Herbst hat nun langsam die Landschaft übernommen. Im Garten verblüht das Unkraut und unter den vertrockneten Resten kommt wieder grüner Rasen zum Vorschein. Heimlich still über Nacht steigt immer öfter ein dichter Nebel über dem Feld vor dem Schachtelhaus auf. Morgens ist es jetzt schon dunkel und bitterkalt, wenn der Chaosprinz zur Bushaltestelle geht.

Um mich herum versinken Menschen im Unglück. Ich empfange schlechte Nachrichten wie ein falsch eingestellter Radiosender und frage mich, ob das schon immer so gewesen ist. Jemand liegt schwerverletzt im Krankenhaus, ein anderer ist jung gestorben. Ein Paar hat sich getrennt, weil sie wieder eine Fehlgeburt hatte, ein anderes, weil sie sich nach über 35 Jahren Ehe nichts mehr zu sagen haben. Vor meinem Fenster wird es dennoch bunt, die Natur setzt ihren Kreislauf fort. Seltsam, denke ich manchmal, dass alles der Veränderung unterworfen ist, nur eben der Kreis der Jahreszeiten nicht.
Vielleicht ist es auch nur ein menschlicher Irrglaube, dass die Jahresuhr sich konstant in ihrer Ebene dreht. Die Zeit gibt ihr als vierte Dimension doch vielmehr die Form einer Spirale. Und doch, in diesem ganzen Entstehen und Vergehen scheint nichts auf der Welt sich wesentlich zu verändern, außer uns selbst.

Tagsüber ist es noch warm im Schachtelhaus. Noch heizen die Sonnenstrahlen die Innenräume auf, auch wenn die Sonne jetzt viel tiefer steht und dadurch mehr blendet als wärmt. Am Nachmittag, wenn die Hausaufgaben erledigt sind, brühen wir uns eine Kanne Tee auf und kuscheln uns gemeinsam auf das Sofa. Ich nehme mein Strickzeug zur Hand und der Chaosprinz schaut mir zu.
Früher war die Welt viel bunter, sagt er, jetzt bleicht sie aus. Grau wird es, sagt er, und ich habe nicht das Herz, ihm zu sagen, dass es nicht die Welt ist, die ergraut, sondern das Leben. Überhaupt mache ich mir Sorgen um seine Zukunft, in den fünfzig Jahren meiner Zeit schien mir das Leben noch nie so nah am Abgrund gestanden zu haben wie heute.

Es ist nur der Herbst, denke ich dann. Er kommt zwar in bunten Blättern und goldenem Schein verheißungsvoll daher, aber wir wissen, dass nun der Winter auf uns wartet, kalt und dunkel und nur schwer zu ertragen. Deshalb sorge ich vor, ich stricke warme Decken aus bunter Wolle und singe dabei alte Kinderlieder, die ich fast vergessen hätte, würde ich sie dem Chaosprinzen nicht unermüdlich vorsingen. Die größte Angst bleibt unbesungen, sagt der Chaosprinz, während er sich an mich kuschelt, und ich denke, ich weiß ganz genau, was er damit meint.

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Wie ein Sandkorn in meiner Hand

Warum auch immer wir gestern auf die Idee kamen, einander abends auf dem Sofa Geschichten zu erzählen von der Zeit bevor wir einander kannten. Es war schon weit nach Mitternacht, die Jungs schliefen längst in ihren Kojen, und ich war so müde, dass mir die Augen zufielen. Trotzdem fragte ich immer weiter nach. Mehr als mein halbes Leben kennen wir uns, mehr als die Hälfte haben wir in der Nähe von einander verbracht. Es sind alte Geschichten und ich hatte sie schon oft gehört, aber trotzdem.

Ihre erste große Liebe war ein Kroate. Sie hatten sich zufällig auf einem spontanen Urlaub kennengelernt. Eigentlich, so sagte sie, war er wie ein Bruder für sie, ein Kumpel, ein guter Freund. Der Sex war nicht unangenehm und gehörte dazu, aber gebraucht hätte sie ihn nicht. Seit jenem Sommer fuhr sie immer mal wieder ins Dorf am Meer, um ihn zu sehen. Sie lernte Kroatisch, um sich besser verständigen zu können. Er kam nach Deutschland, aber es gefiel ihm nicht. Zu stark war der Kontrast zwischen dem warmen, steinigen Süden am Meer und dem saftigen Grün des eng besiedelten Nordens.
Ihre Leben waren verbunden, immer mal wieder, dann rissen sie auseinander, immer mal wieder. Neue Partner, sie heiratete einen Zahnarzt, er eine Frau aus dem Dorf, beide bekamen Kinder, sie einen Sohn, er zwei Töchter. Vor fünfzehn Jahren kam er ein letztes Mal nach Deutschland. Da war sie schon längst vom Zahnarzt geschieden, er lebte in seiner Ehe, fand aber, sie habe die älteren Rechte. Doch schon bei ihrer Begrüßung am Bahnhof wussten beide, es würde nichts mehr laufen zwischen ihnen. Er blieb über das Wochenende, dann war er verschwunden. Zum Abschied sagte er ihr, es sei das letzte Mal gewesen und hat sich daran gehalten.
Was wäre gewesen, wenn, fragten wir uns gestern. Es wäre alles ganz anders gekommen. Sie hätte den Zahnarzt vermutlich nicht geheiratet, hätte den Sohn nicht bekommen. Vielleicht wären wir uns nie begegnet. Ob das alles besser gewesen wäre, wer weiß das schon?

Heute früh googlte ich nach seinem Namen. Manchmal findet man alte Bekannte irgendwo im Netz, wundert sich, wo sie heute sind und was sie dort machen. Ich fand den Namen sofort in einer Todesanzeige. Langsam stieg ich die Treppen hinab. Ich muss dir etwas sagen, begann ich und, setz dich für einen kurzen Moment. Vergänglich dieses Leben, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Sie läuft in den Keller, um ein Fotoalbum zu holen. Sie beide in Kroatien, irgendwo am Meer, Stein und Staub um sie herum. Sie lächeln ins Objektiv. Auf einem Boot, es ist winzig, aber mit starkem Motor. Die Farben sind alterstypisch, genauso wie die Mode. Das Kind bekommt Zuckerwatte an einem Stand an der Strandpromenade. Die Freundin ist topless. Ein ganzer Urlaub auf Fotopapier. Kurze Momentaufnahmen des Glücks, denn daran will man sich erinnern und deshalb posiert man für die Kamera. Um später einmal darauf zurückblicken und überzeugt sagen zu können, dass es ein gutes Leben war. Eines voller Glück und Sonnenschein, voller Sommertage und ohne Regenschauer. Man hat es mit einem Lächeln auf dem Gesicht gelebt. Zum Beweis: ein Foto.

Ich denke an die Tasche mit Fotografien aus meinem Leben, die im Keller immer noch darauf wartet, irgendwann sortiert und in Alben geklebt zu werden. Kurze Momentaufnahmen des Glücks, ein Lächeln für die Kamera. Damit man später sagen kann, die eigene Kindheit war ein Leben voller Sonnenschein. Zum Beweis: ein Foto. Darin nicht abgebildet sind die vielen Regentage voller Leid, Schmerz und Trauer. Die Momente der Selbstzweifel, der Mutlosigkeit, der Einsamkeit. Nur hin und wieder kann man in den Augen das Abbild davon erkennen, wie eine Reflektion des Fotografen, der ein Kuscheltier über das Kameraobjektiv hält und einem sagt, man solle lächeln, obwohl einem gar nicht nach Lächeln zumute ist.

Irgendwie ist ein Foto ihrer standesamtlichen Hochzeit mit dem Zahnarzt dazwischen gerutscht. Es zeigt sie beim Unterzeichnen der Heiratsurkunde. Er beugt sich gerade über das Buch, ein Doppelblatt in festes Leder gefasst, um ihm Gewichtigkeit zu verleihen. Sie sitzt mit überkreuzten Beinen neben ihm und lächelt für die Kamera. In diesem Augenblick, so erzählt sie, wurde ihr bewusst, dass die Ehe nicht halten würde. Er war ein Gentleman und als zwei Jahre später der Sohn geboren wurde, auch ein guter Vater, aber bereits im Augenblick der Unterzeichnung wusste sie, dass sie nicht für einander bestimmt gewesen sind.

Vielleicht liebte meine Mutter deshalb Fotos so sehr. Wann immer sie eines abstauben konnte, steckte sie es ein. Weil Fotos die guten Momente festhalten, in denen die Menschen, die man liebt, glücklich aussehen, und genau so will man sie in Erinnerung behalten, so glücklich und voller Sonnenschein. Die Fotos wurden betrachtet, bevor sie in der „wichtigen Schublade“ verschwanden, in der auch Dokumente ihren Platz fanden. Wann immer diese Schublade zu voll wurde, nahm meine Mutter eine blaue Mülltüte und stopfte alles hinein.
Im Keller stapelten sich diese blauen Müllsäcke. Nach ihrem Tod bin ich jeden einzelnen von ihnen durchgegangen. Geburtsurkunden, Sterbeurkunden, Scheidungsurkunden, Erbscheine, Einbürgerungsurkunden, Dankesurkunden. Briefe von Banken, Versicherungen, Verwandten, Kontoauszüge von vor zwanzig Jahren, Verträge, Pläne, Einkaufslisten. Fotos von Onkeln, die in Weltkriegen fielen, und Tanten am Tag ihrer Hochzeit, Kindergeburtstagen und Beerdigungen. Pittoreske Landschaftsaufnahmen von Tagesausflügen in die Berge, an Seen, in Dörfer. Haufen bedruckten Papiers, ein jedes wichtig, ein jedes steht für eine ganz besondere Erinnerung. Die Ansammlung eines ganzen Lebens, ausgeblichen und verknittert. Das Lebenschaos aus den blauen Säcken meiner Mutter war mein Erbe. Es hat mich Jahre gekostet, die Sammlung zu sichten und wichtige Unterlagen von unwichtigen zu trennen. Am Ende ging ich nach fast vierzig Jahren mit zwei Kartons aus meinem Elternhaus und überließ den Rest einer Firma, die alles in große Container warf und zur Verbrennung abholen ließ.

Eine Stunde nach dem Frühstück sitze ich alleine am Tisch und tippe diesen Eintrag. Mein Kopf ist verwirrt, so würde der Chaosprinz es ausdrücken. Ich denke über das Leben nach. Darüber, wie jeder einzelne Moment davon durchlebt werden will. Jede einzelne Sekunde, die wir gerne weglächeln würden, sei sie noch so schwer zu ertragen. Darüber, wie die Momente unseres Lebens uns unendlich lang erscheinen können. Wie die Ansammlung dieser Momente hinterher zur Geschichte unseres Lebens werden. Und wie sie letztlich davonflattern, vom Wind zu Staub zertragen werden, wie ganze Galaxien geboren werden, während ich einatme, und wieder sterben, noch während ich ausatme. In meine Gedanken hinein klingelt es an der Haustür, der Chaosprinz läuft neugierig hin. Es ist Sonntag, wichtig kann es also nicht sein, denke ich, und bleibe vor dem Computer sitzen. Erst als ich merke, dass der Chaosprinz offenbar eine Konversation führt, stehe ich auf.
An der Haustür steht ihr Sohn. Gerade noch hatten wir Fotos von ihm als kleinem Jungen angesehen, wie er im Meer tauchte und Zuckerwatte an der Strandpromenade naschte. Ich bin überrascht, schalte aber nicht. Sie hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Sohn. Obwohl er im gleichen Dorf wohnt, sprechen die beiden nicht mit einander. Der Grund dafür bin vermutlich ich, auch wenn ich nicht so genau weiß, wie ich in diese Lage geraten bin.

Warum konnten Menschen nicht einfach akzeptieren, dass wir unser Leben miteinander verbringen wollten. Dass wir uns mochten und irgendwie spürten, dass wir zueinander gehörten. Dass es nichts mit körperlicher Anziehung zu tun hatte, nichts mit Sex, nichts mit irgendwelchen Vorteilen, die wir uns davon versprachen. Warum konnten die Menschen nicht einfach akzeptieren, dass wir zusammengehörten, weil irgendeine höhere Macht uns zusammengeführt hatte. Dass wir unsere Beziehung niemals hätten definieren können, weil sie in keine der gängigen Kategorien zu passen schien. Dass wir uns auch gar nicht auf irgendetwas davon festlegen wollten, was ohnehin danebengelegen hätte. Konnte sich denn niemand vorstellen, dass wir einander mochten und uns füreinander verantwortlich fühlten. Dass wir für einander da sein wollten. Warum dachten die Menschen nur an Sex und Geld. Wo beides doch überhaupt niemals eine Rolle zwischen uns gespielt hatte.

Der Zahnarzt war gestorben. Deshalb stand ihr Sohn heute vor der Tür seines Elternhauses. Für uns kam diese Nachricht völlig unerwartet, wir wussten nicht einmal, dass der Zahnarzt ernstlich erkrankt war. Niemand hatte sie darüber informiert. Der Sohn vermied das Wort „Mutter“ bewusst und nannte sie beim Vornamen, als er nach ihr fragte. Ich bat ihn herein, aber er wollte nicht. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich ihm sagte, dass er es sich alles noch einmal überlegen sollte. Das Leben, sagte ich ihm, sei so kurz. Es sei so vergänglich, das Leben, und das Ende sei so unberechenbar. Und am Ende, sagte ich ihm, seien wir doch nur unsere eigenen Geschichten, und ob es ihm nicht angesichts dieser Umstände möglich sei, fragte ich ihn, die Beziehung zumindest in irgendeine Normale zu bringen.
Darüber sollten wir doch jetzt nicht sprechen, sagte er. Dann ging er, er müsse noch die Kinder abholen, entschuldigte er sich.

Meine beste Freundin, die Frau, in deren Nähe ich mehr als mein halbes Leben verbracht habe, bevor wir uns vor nunmehr zwölf Jahren entschieden, zusammenzuziehen, hat an diesem Tag ihre große Liebe und ihren Exmann verloren. Eine Nacht zuvor hatten wir noch über ihr Leben gesprochen. Wir hatten uns morgens die Fotoalben angeschaut, als hätten wir es irgendwie geahnt. Aber natürlich hätten wir es nicht wissen können. Es hatte ja nicht einmal Hinweise darauf gegeben.

Mein Kopf ist nicht mehr verwirrt, auch wenn ich noch wirr schreibe. In Wahrheit erscheint mir nun vieles klarer als zuvor. Zum Beispiel, dass das Leben viel zu kurz ist, um sich seine Zeit vom Alltagskummer auffressen zu lassen. Dass die schönen Augenblicke, die wir auf Fotos festhalten, so flüchtig und vergänglich sind, und so klein wie ein Sandkorn auf meiner ausgestreckten Handinnenfläche. Dass ich meine Suppenfreundin so lieb habe, so sehr, dass ich die mir zugeteilte Zeit an ihrer Seite verbringen wollte, für sie da sein wollte und dass es mir scheißegal ist, warum das irgendjemand nicht versteht. Ich werde niemals wieder über irgendetwas streiten, über rein gar nichts mehr, denn nichts auf der Welt ist es wert, um darüber zu streiten und dafür reicht die Zeit auch einfach nicht mehr. Von nun an will ich die Privilegien des Alters genießen. Ich will lilafarbene Kleidung tragen und einen verrückten Hut. Ab heute werde ich zu meiner eigenen Geschichte. Möge sie eine gute werden.

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T-2

Ob es der Klang ist?
Das Geräusch, ein Schall nur, kein Wort, spät nachts oder früh am Morgen, wenn niemand damit rechnet, weil alles schläft.

Vielleicht ist es der Klang.
Ich tue mich schwer mit diesem Herbst.
Es ist zu kalt, und wenn es kalt ist, dann sollte ich gar nicht hier sein, dann ist vielleicht der Ort falsch. Es gäbe welche, die wären weniger falsch, aber der richtige war noch nicht dabei. Jedenfalls ist die Zeit falsch, da bin ich mir sicher.

Es summt in meinen Ohren, irgendwie betäubend, und warum sagst du nichts? Weil es zu laut ist, weil ich mein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann, wenn alles bricht und bröckelt, und was einmal kaputt ist, das lässt sich auch nicht mehr kleben, und genau deshalb muss man vorsichtig sein. Aber wem sag ich das.

Jedenfalls tue ich mich schwer mit diesem Herbst und diesen Nächten, und dabei sollte man meinen, ich hätte mich längst daran gewöhnt, und dass es mich doch keine schlaflosen Nächte mehr kostet.

Vielleicht ist es das Gesamtkonzept – was erscheint, ist auf Links gedreht und wirkt deshalb irgendwie falsch, ohne dass man sagen könnte, wie es denn nun richtig wäre.
Ein Suchbild vielleicht, in dem man keine Fehler findet, das aber trotzdem falsch aussieht.
Vielleicht ist es das.

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52 Stunden

Eine nicht unerhebliche Anzahl Stunden habe ich in meinem Leben mit Warten zugebracht. Warten auf besondere Ereignisse, auf Urlaube oder Wochenenden. Warten auf Klausurtermine, Geschäftsmeetings, Arztbesuche. Warten auf Ankünfte und Abfahrten, das Klingeln von Schulglocken oder den Postboten, auf Sonnenuntergänge und darauf, dass es wieder Morgen wird.

Der Chaosprinz ist seit einer Stunde unterwegs auf Klassenfahrt. Sie fahren in irgend ein Nest irgendwo im Westerwald, einfach nur, um wegzufahren, denn zu sehen gibt es dort eher nichts. Ich habe ihm tapfer jede Menge Spaß gewünscht und, kaum dass er aus der Tür war, meinen Timer auf 52 Stunden gesetzt. Die gilt es jetzt abzuwarten und durchzustehen. Ich widerstehe dem Impuls, in meine Schrottschleuder zu springen und ihm einfach nachzufahren. Mich dort irgendwo einzuquartieren und ihn aus der Ferne zu beobachten. Ich bin keine Helikoptermutter!

Jemand warf mir einmal vor, kein Vertrauen ins Leben zu haben. Wie sollte man das denn auch haben? Dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest sind wir doch völlig gleichgültig und selbst einander bedeuten wir nichts.

Ich bin keine Helikoptermutter, aber es ist so schwierig, erwachsen zu werden. Das weiß ich, denn ich musste ja selbst mal erwachsen werden. Allerdings waren das noch ganz andere Zeiten. So erinnere ich mich als Achtjährige, wie ich vor dem Podestpult von Schwester Carola stand. Sie schob ihre Lesebrille auf die Spitze ihrer Knollennase und sah über die Brillengläser hinweg prüfend auf mich herunter, bevor sie einen Blick in mein Heft warf. Und für diesen einen, kurzen Moment blieb mein Herz einfach stehen.
Ich bin keine Helikoptermutter. Leichter ist es im Laufe der Zeit nicht gerade geworden, das Erwachsenwerden. Das Erwachsensein aber auch nicht. Denn ganz gleich, wie du es machst, du machst es ohnehin verkehrt. Bei all dem, was Eltern alles falsch machen, ist es ein Wunder, dass es uns überhaupt noch gibt. Bei allem, was Eltern alles falsch machen könnten, ist es kein Wunder, dass immer mehr Menschen beschließen, keine werden zu wollen. Und, da seien wir mal ganz ehrlich, hätten Eltern immer ganz genau gewusst, was da eigentlich auf sie zukommt, wären wir längst ausgestorben. Andererseits ist das wohl auch so, wenn du dir eine verdammte Zimmerpflanze im Gartencenter kaufst. Immer, immer, immer kommt irgendjemand daher, der sich berufen fühlt, dir wortreich zu erklären, wie du es besser machen könntest.

Zweiundfünfzig Stunden.
Durchzustehen mit viel gutem Willen und einer ordentlichen Portion Ablenkung.
Und so wird es gehen. Irgendwie.

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