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Steinsuppe

Jeden zweiten Sonntag gibt es bei uns Gemüsesuppe. Denn jeden zweiten Freitag kommt der Tafelmann und bringt eine Kiste voller Gemüse. Das meiste muss sofort verarbeitet werden, denn vieles davon ist schon ziemlich angegammelt.

Jedes Mal, wenn meine Mutter Suppe kochte, erzählte sie mir die Geschichte von der Steinsuppe.
Sie geht ungefähr so: Ein Fremder kommt mit einem leeren Kochtopf in ein Dorf. Er bittet die Dorfbewohner um etwas zu essen, aber an welche Tür er auch klopft, niemand hat etwas. Daraufhin geht der Fremde zum Bach, füllt den Topf mit Wasser und macht auf dem Marktplatz ein Feuer. Er stellt den Topf mit Wasser auf das Feuer und legt einen großen Stein hinein. Die Dorfbewohner werden neugierig und versammeln sich um den Fremden. Einer fragt, was er da macht, und der Fremde sagte, er mache eine „Steinsuppe“, die sehr lecker sei und die er gern mit allen Dorfbewohnern teilen würde. Allerdings fehlen ihm noch einige, wenige Zutaten, um den Geschmack zu verbessern. Was ihm denn fehlen würde, fragte ein andere. Der Fremde antwortet, dass ihm noch ein paar Möhren fehlen. Der Dorfbewohner hatte noch einige und gab sie dem Fremden. Ein anderer sagte, er hätte noch ein paar Kartoffeln. Sie wurden der Steinsuppe hinzugefügt. So brachte nach und nach jeder Dorfbewohner, was er noch hatte und erübrigen konnte, und immer mehr Zutaten wanderten in die Steinsuppe: Zwiebeln, Sellerie, Lauch, Tomate, Mais, Schmalz, Salz, Pfeffer und Fleisch. Am Ende nahm der Fremde den Stein aus dem Topf und teilte die Suppe mit den Dorfbewohnern.

Jedes Mal, wenn ich an jedem zweiten Sonntag unsere Sonntagssuppe koche, erinnere ich mich an diese Geschichte. In unsere Suppe kommt alles, was mitgekommen ist. Dadurch ist sie immer anders und ich fühle mich wie eine richtig gute Köchin.
Suppen sind überhaupt ganz großartig. Sie kommen in den unterschiedlichsten Gewändern daher. Mit Suppen wird es nie langweilig, trotzdem essen wir sie viel zu selten. Eine Tante von mir machte zu jedem Mittagessen eine Suppe. Sie nutzte dafür einfach die übrig gebliebene Gemüsebeilage vom Vortag. Eine tolle Idee.
Nun bin ich wirklich keine gute Köchin, nicht einmal eine ganz passable. Meine Qualitäten liegen auf weit unpraktischeren Gebieten. So kann ich zum Beispiel ganz ordentlich bügeln. Da wir aber so gut wie gar keine Bügelwäsche haben, besitzen wir auch kein Bügeleisen mehr und so verpufft meine Fähigkeit ins Leere.

Abgesehen davon, dass wir kein einziges Stoffteil im Haus bügeln und nur sehr unregelmäßig kochen, gehen wir noch viele andere Kompromisse bei der Hausarbeit ein. Das fällt vor allem mir schwer, denn ich möchte alles immer perfekt haben. Das Haus glänzt, vom Fußboden lässt sich speisen, ein jedes Ding hat seinen Platz und alle drei Tage wird die Bettwäsche frisch aufgezogen. Kurzum, ein auf Hochglanz gebürstetes Zuhause wie aus dem Katalog. Niemand lebt so, sagt die Suppenfreundin, wenn ich im Übereifer mal wieder den Staubsauger schwinge, wirklich niemand. Und dann lasse ich es auch meistens gut sein.

Aber auf die Steinsuppe jeden zweiten Sonntag muss ich bestehen. Sie krönt mich zu der guten Hausfrau, die ich gern wäre. Eigentlich, so denke ich manchmal, bräuchten wir für unsere Steinsuppe eine dieser altmodischen Suppenschüsseln aus Keramik. So eine, wie sie sich der Michel aus Lönneberga über den Kopf gezogen hatte und die dann zerschlagen und wieder geklebt werden musste. Aber das wäre nur ein weiteres Teil, das gespült werden müsste. Und so gibt es unsere Sonntagssuppe heute wieder aus dem Kochtopf. Mit diesem Kompromiss kann ich aber ganz gut leben.

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3,2,1 – Wochenende!

Es ist Wochenende, die Tage bis dahin sind immer sorgfältig abgezählt und sehnsüchtig erwartet. Zwölf Uhr Mittag, bis vor einer Stunde habe ich noch geschlafen. Der Chaosprinz spielt mit dem besten Freund. Aus einer Bananenkiste haben sie einen Bankautomaten gebaut, mit Karteneinzug und Geldausgabe. Der Automat steht nun mitten im Wohnzimmer und wartet auf seinen ersten Einsatz.
Draußen ist es immer noch kalter Winter, immer noch liegt kein Schnee und langsam fühle ich mich darum betrogen. Statt dessen grauer Nieselregen, der vom Himmel fällt, so leicht, dass man ihn kaum sehen kann. Wie ein Schleier legt er sich über den Blick und macht fast unsichtbar alles nass. Nur die Tropfen am nackten Rosenstrauch werden immer schwerer, bis sie schließlich zu Boden fallen.

Mein Kaffee schmeckt grässlich. Aus Kostengründen wechselte die Suppenfreundin beim letzten Einkauf zu einer Hausmarke. Ich frage mich, wer diese Brühe trinken soll, da fällt mir ein, für wen sie diese Abscheulichkeit überhaupt produzieren: für Menschen wie mich. Solche, für die es einen gewaltigen Unterschied macht, ob sie für ein Paket drei Euro mehr bezahlen. Aber diese Brühe kann man wirklich nur wegschütten.

Die letzten Jahre haben tiefe Furchen hinterlassen. Wir suchen die Nähe zueinander, rotten uns zusammen gegen die Kälte von draußen, dann hocken wir aufeinander und stoßen uns wieder ab. Ein bisschen Privatsphäre im eigenen Zimmer, dann kommt der Chaosprinz zurück, einsam und ein wenig gelangweilt. Eine Partie Schach, ein paar englische Vokabeln, kuscheln mit dem Hund. Seine Kindheit gegen meine eigene, erwachsen zu werden war damals schon anstrengend.
Vergiss nicht zu rennen, sage ich zu ihm, ganz gleich, in welche Richtung.

Und so träume ich heute vom Meer. Von der Hitze des Südens, salziger Luft und Plätzen, die ich Heimat nannte. Von Menschen, die es längst nicht mehr gibt. Ich träume von einem kleinen, einfachen Restaurant am Hafen eines kleinen Fischerdorfes, in dem es seit über vierzig Jahren den besten Fisch gibt. Meine Mutter folgte damals den Einheimischen, während die Touristen sich von bunten Tischdecken und gut gekleideten Kellnern zu billigem Tiefgefrorenen verführen ließen.
In mir schlafen fünfzig Jahre Einsamkeit.
Ich träume von fernen Ländern, die ich nur aus dem Fernsehen kenne. Von hohen Bergen und tiefen Schluchten, klaren Horizonten über weitem Ödland. Von Orten, an denen kein Regentropfen fällt, und sternklaren Nächten, in denen man die Melodie des Universums hören kann.
Ich habe Heimweh nach jemandem, der sich freut, mich zu sehen, und Fernweh nach dem, was ich noch nicht kenne. Es klingt danach, aber das ist kein Widerspruch. Gabriel Garcia Marquez nannte es „Leben, um davon zu erzählen“.

Das Leben aber kommt aus der Konserve.
Ich blättere Fotoalben durch, lese alte Reiseberichte, schaue Videos über ferne Winkel auf Youtube. Manchmal gehen wir auf google earth. Dann suchen wir nach Megastädten in Asien und einsamen Stränden im Pazifik, Urwäldern im Süden Amerikas und Wüsten in Zentralafrika. Ich zeige ihm Sibirien und Kamtschatka, kilometerweit nur Wälder und Steppen. Island und Madagaskar. Und wo wir uns befinden. Ich zeige dem Chaosprinzen, wie groß die Welt ist. Er staunt, wie klein im Vergleich dazu unsere eigene ist.

Natürlich schütte ich meinen Kaffee mangels Alternative nicht weg. Ich probiere ein bisschen weniger Kaffeepulver, ein bisschen mehr Milch, noch einen Löffel Zucker, aber das Zeug lässt sich einfach nicht trinkbar machen. Ich werde versuchen, mich daran zu gewöhnen.

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Warten, bis der Frühling kommt

Der Morgen ist ein wintertrüber Gedanke, über den Bergen hängt eine tiefe Nebelglocke, darunter deutet sich das Tal an. Es ist schon hell, nur sonnig wird es in den letzten Tagen selten. Der Tag vergeht unbemerkt von einer Graustufe in die nächste, ein Warten auf wärmere Zeiten.
Ich habe furchtbar anstrengende Tage hinter mich gebracht und auch heute verspricht ereignisreich zu werden. Ich denke an meine Liste und mache mir Mut. Der Tag kommt anstrengend und sorgenschwer, aber er hat nur diese vierundzwanzig Stunden. Dann kommt schon der nächste Tag.

Und so geht es weiter: Der Chaosprinz soll ein Referat über Michael Jackson halten. Jedem ist klar, dass er das nicht selbst vorbereiten kann. Also setze ich mich an den Laptop und schreibe einen Text über Michael Jackson. Ich suche in Webseiten nach kindgerechten Details, lade Fotos herunter und lege CDs bereit. Heute Nachmittag wird der Chaosprinz lesen. Und dann entscheiden, was davon er in seinem Referat verwenden möchte. Erste Grundlagen zum wissenschaftlichen Arbeiten wollen gelegt werden.

In der Grundschule hängt der Erfolg eines Kindes vom Engagement der Eltern ab. Ein jedes Ding will gelernt werden. Die Schule gibt die Vorgaben, die Eltern setzen sie um. Bildung ist ein hohes Gut, das überlässt man nicht der Schule allein. Während ich über dem Werk von Michael Jackson die Wolkendecke betrachte, die sich tief in die Welt drückt, wandern die Gedanken ab. Das Werk über Michael Jackson bleibt vorerst unvollendet.

Der Chaosprinz hat seine Cerealien nicht ausgelöffelt. Ich erkläre die Reste zu meinem Frühstück und lasse den Morgen trüb an mir vorbeiziehen. Es wäre ungerecht, dem Regen die Schuld zu geben, nur weil er sich die Welt zu seinem Spielplatz macht. Seit Wochen grauen die Tage, nehmen den Farben ihren Glanz. Alles, was ich berühre, fühlt sich kalt und trocken an. Erinnerst du dich, als im Herbst die Blätter von den Bäumen fielen, eines nach dem anderen, das klare Blau des Himmels den Winter ankündigte.
Und jetzt wartest du geduldig darauf, dass die Sonne wiederkommt und dir die Winterkälte aus dem Körper wärmt.

Wir müssen verrückt sein, denke ich, dass wir keinen Winterschlaf halten. So wie andere, klügere Tiere, die sich tiefe Höhlen in die Erde graben und schlafen, bis das Schlimmste vorbei ist. Und dann zum ersten warmen Tag wieder aufwachen, ausgeruht und unternehmungslustig.
Den Winter einfach wegträumen, denke ich, wenn schon kein Schnee fällt.



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Sein, trotzdem

Heute früh empfing mich eine Welle der Traurigkeit.
Ich weiß nicht, wo sie hergekommen ist, läuft im Grunde doch alles seinen gewohnten Gang.
Ich wachte allein im Bett auf, im Haus war es ganz still. Die Suppenfreundin war mit dem Hund unterwegs, der Kater auf Frühstücksfang und der Chaosprinz hatte Übernachtungsbesuch gehabt und schlief noch.

Sentimentalität ist echt ein Scheiß. Erst kommen die Gefühle, die einen überfallen, dann kommt die Erinnerung, die dazu passt. Fast aus dem Nichts, ein Bild, eine Melodie, ein Geräusch oder eben keines. Zeitlos, denn es tut auch nach Jahrzehnten noch genauso weh. Mit dem Alter wird das nicht besser. Ich erinnere mich an wasserblaue Augen aus dem faltigen Gesicht, geweinte Tränen, die ich nicht verstanden habe, und heute weine ich unvermittelt den Chaosprinzen an und er hasst es.

Ich habe mir nie die Zeit genommen, meine Gefühle genauer zu betrachten. In der Psychotherapie lernte ich, dass Gefühle wie kleine Kinder sind. Sie wollen Beachtung. Wenn man ihnen diese verweigert, werden sie so laut und aufdringlich, dass man sie gar nicht mehr unterdrücken kann. Dann ist es aber meist zu spät und sie überschwemmen jeden Gedanken. Missetat begangen. Und nun sieh mich an!

Heute Morgen ist es die Traurigkeit. Oft ist es die Traurigkeit. Sie schreit laut ihren Schmerz heraus. Über vergangene Verletzungen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und verpasste Gelegenheiten. Sie legt ihre Dunkelheit über mich wie eine Decke und trübt das Tageslicht. Ich spüre die Traurigkeit, schaue aber nicht hin. Ist es meine?

Gefühle kann man erben, das wusste ich zwar noch nicht, aber seitdem ich es weiß, fallen mir einige ein, die ich von meiner Mutter übernommen habe. Ereignisse, die mich in meinem Leben nie getroffen haben, die ich trotzdem betrauere. Über die ich wütend werden kann. Oder mich ärgern. Oder einfach nur diese Grundeinstellung zum Leben an sich. Meine Mutter war ein Kriegskind, Verlust, Tod, Dreck und Armut waren ihre Prägung. Nie genug zu bekommen, immer hart für alles arbeiten zu müssen, Vergnügen und Glück sind ebenso kurz wie vergänglich und nur Lichtblitze in einem Leben aus Leid, Anstrengung und Entbehrungen.

So ein Leben führe ich gar nicht und ich möchte das auch nicht so sehen.
Mein Leben hat mich nicht unbedingt gestreichelt, das Glück war ein seltener Gast, aber wenn es kam, schuf es immer etwas Großes, etwas Bleibendes, etwas Gewaltiges. Im Grunde habe ich, auch wenn ich es nicht leicht hatte, immer von allem nur das Beste bekommen: den besten Chaosprinzen, die beste Suppenfreundin, den besten Hund. Beim Kater lasse ich mich noch auf Diskussionen ein, aber eigentlich ist auch der ganz in Ordnung. Ich habe die wundervolle Gabe bekommen, mein Leben beschreiben zu können, es auf die Zweidimensionalität der Worte herunterzubrechen und dort in aller Ruhe zu betrachten. Das Papier ist mein Denkarium, alles findet seinen Platz darauf und verstopft dann nicht mehr meinen Kopf.

Die Dinge kann man selten ändern. Sie passieren einfach, kommen manchmal aus dem Nichts, der Einfluss, den wir darauf nehmen können, ist so klein, dass es eigentlich erschreckend ist. Das sprichwörtliche Schicksal, das anzunehmen ist, weil man es nicht ändern kann, nur hoffen, dass es einen Gott gibt, der weiß, was Er da tut, damit es auf den Menschen nicht ganz so willkürlich und ungerecht wirkt.

Was ich aber beeinflussen kann, ist meine Sicht darauf. Damit meine ich nicht, jeder Dunkelheit mit aller Macht unbedingt auch etwas Licht abringen zu wollen. Ich traf auf einer Geburtstagsfeier mal einen Arzt, mit dem ich mich lange über meine Erkrankung unterhalten habe. Ich erzählte ihm, wie grausam es war, innerhalb von vier Wochen nichts mehr von dem zu können, was man vorher konnte. Wie schwierig es war zu akzeptieren, dass von nun an die Dinge würden anders laufen müssen. Wie ich auf die Intensivstation gebracht wurde und dort ganze zehn Wochen verbrachte, und wie danach nichts mehr so war wie vorher. „Seitdem ist jeder Tag -„, so begann ich den Satz. Er vollendete ihn mit „-ein Geschenk“.

Was ich eigentlich sagen wollte, war „ein Kampf“. Nein, das Leben ist seitdem kein Geschenk. Ein Geschenk wäre es, wenn ich wieder gesund geworden wäre und mein Leben einfach hätte weiterleben können wie zuvor.
Meine Erkrankung und die damit einhergehende Behinderung sind eine tägliche Herausforderung, die zu akzeptieren ist. Wie das Wetter, da kann man zwar drüber jammern, die Sonne wird davon trotzdem nicht scheinen.

Vielmehr geht es darum, nicht mehr nur darüber zu jammern. Vergossene Milch und so. Irgendwann muss man den Lappen nehmen, sich bücken und sie aufwischen. Und dann muss man neue Milch kaufen gehen. So ist das. Eigentlich ganz einfach.
Die Alternative, die Milch auf dem Boden zu lassen und fortan Wasser zu trinken, ist keine. Und deshalb hört es auch an irgendeinem Punkt auf, Sinn zu ergeben, darüber zu jammern. Da muss man dann eine Inventur machen und handeln.

Und das meine ich damit, auch wenn es wie ein Kalenderspruch klingt: annehmen, was ist, schauen, was geht, und dann weiterleben. Mit all den Gefühlen, geerbt und selbst erworben, mit den Beeinträchtigungen, zu meistern oder unüberwindbar, mit den eigenen Fähigkeiten oder Einschränkungen. Je genauer man die kennt, desto besser kann man sich letztlich darauf einstellen.

Sein, trotzdem.
Seinen Platz in dieser Welt einnehmen, solange er da ist.
Und wenn mir das gelingt, dann habe ich heute gewonnen.
Und Morgen sehen wir dann weiter.

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+++Eilmeldung+++

Die zweite Woche im Januar ist nur so dahingerast und nun steht das Wochenende vor der Tür.

Der Chaosprinz hat sich schnell wieder an das frühe Aufstehen gewöhnt. Am Montag noch saß er bleich und fröstelnd vor seinen Chaoscereals und starrte missmutig auf den Löffel. Heute hüpft er gut gelaunt aus dem Haus. Unter seinen Schritten knirscht der gefrorene Raureif.
Für mich ist das frühe Aufstehen eine abscheuliche Folter. Kurz bevor der Wecker klingelt, werde ich mir der Ausläufer meines Traums bewusst. Es braucht Zeit, bis ich mich in meinem Leben wiederfinde, bis ich weiß, wo ich bin. Meist ist der Inhalt des Traums sofort vergessen. Morgensteif stakse ich aus dem Bett auf das Sofa. Dort bleibe ich erstmal sitzen und lese die morgendlichen Schlagzeilen.

Online teilt die Welt sich mir im Sekundentakt aktualisiert mit. Nachrichten ticken in Echtzeit, nichts wird verpasst. Spannend, zeitraubend und fürchterlich anstrengend. Die Geschwindigkeit, mit der jede Form von Informationen, Erkenntnissen, Kommentaren und Meinungen veröffentlicht und übertragen wird, ist atemberaubend. Das Gehirn ist auf permanenten Empfang geschaltet. Was ich alles nicht wusste. Dabei bin ich noch so müde.

Die Welt dreht sich. Das tat sie immer schon. Jedes Jahrzehnt hat seine eigenen Themen und Herausforderungen. Und jetzt eben diese. Die Nachrichtenübermittlung wird immer schneller. Sie erreicht uns aus den entlegensten Winkeln der Welt, verkauft uns Ansichten als Tatsachen, preist herrschende Meinungen und prangert vermeintliche Missstände an. Sie peitscht emotional auf mit reißerischen Schlagzeilen und verspricht Sensationen, die sie nicht halten kann.
Eine Eilmeldung über das Gerücht um die vermeintliche Teilnahme eines unbekannten Gesichts am Dschungelcamp. Weiter meldet man mir eilig die Trennung der Trällerliesl von Herrn Sumsemann. Eilig wird daraufhin gemeldet, dass es eigentlich nichts eiliges zu melden gibt. Genervt frage ich mich, wozu ich das dann alles wissen muss.

Morgen für Morgen erschlagen mich die Nachrichten auf meinem Sofa. Dann wünschte ich, ich könnte mich all dem wieder entziehen, mir keine Meinung bilden müssen. Mich auf meinen alten Elfenbeinturm zurückziehen, die Rollladen herunterlassen, den Kopf einziehen und hoffen, das Gewitter möge vorbeiziehen und die nächsten Wolken nicht so bedrohlich nah über mir hängen.
Doch seit ich den Chaosprinzen jeden Tag in die Welt hinausschicke, kann ich es mir nicht mehr leisten, nicht ausreichend informiert zu sein. Es ist auch nicht mehr möglich, keine Haltung einzunehmen, keine Stellung zu beziehen. Denn mit der Geburt seines Kindes wird man gezwungen, über die eigene Existenz hinaus zu denken. Die Entscheidungen, die ich heute treffe, treffe ich nicht mehr nur für mich allein.

Die Welt dreht sich, so lese ich aus der Flut an Nachrichten heraus, immer noch.
Und das muss mir für heute einfach mal reichen.

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Stiller Morgen

Wenn der Chaosprinz morgens aus dem Haus geht, wird es still.
Es ist noch so dunkel, nur langsam kriecht Licht über den Ölberg, der Himmel ist gemalt. Wenn er geht, kommt das einzige Geräusch vom Kühlschrank und einer Uhr, die irgendwo ihre Sekunden abtickt. Das strahlende Weiß des Monitors brennt in meinen Augen.

Wenn er geht, wird es ruhig. Es ist wie in diesem Lied, es scheint dann keine Sonne, wenn er nicht da ist, und ich falle in eine Starre. Wie Spinnen, die in den Ecken hocken, bewegungslos auf ihre Beute warten, ihnen wird nicht langweilig. Ich hätte, hätte so viel zu tun. Es müsste, müsste so viel erledigt werden. Doch wenn er weg ist, dann warte ich, mir wird nicht langweilig. Um mich herum bewegt sich die Welt. Der Kater stolziert selbstbewusst aus dem Keller, weil die Suppenfreundin mit dem Hund unterwegs ist. Der erste Vogel fliegt am Fenster vorbei.
Als sei ich nicht, wenn er weg ist. Als werde ich erst wieder, wenn er mich braucht.
Was war ich, bevor der Chaosprinz über mein Leben brach. Ziellos ließ ich die Straßen links und rechts an mir vorbeiziehen. Ich passierte Plätze und Gebäude und fand doch keinen Ort, mich für einen Moment auszuruhen. In der Masse meiner Generation trieb ich durch die Schule und das Studium, nahm eine Arbeit auf, lebte an meinem Leben vorbei. Am Ende einer dieser Straßen wartete er geduldig auf mich. Er wusste, ich würde kommen, und ich wusste es auch.

Wenn der Chaosprinz morgens zur Schule geht, gehe ich in Gedanken jeden Schritt mit. Ich weiß, wie lange er braucht, um den Schulhof zu erreichen, welchen Gang er zur Treppe und welche Treppe er zum Klassenzimmer nehmen muss. Wenn er in der Klasse sitzt und es klingelt, stelle ich mir vor, wie er seinen Ranzen öffnet und seine Schulbücher hervorholt. In der ersten Stunde hat er Mathe. Heute machen sie die schriftliche Division. Da macht ihm keiner was vor.

Ich sehe mich in der Klasse sitzen, unsicher, weil alle anderen besser zu sein scheinen als ich. Ich sehe mich und fühle mich wie ein Fremdkörper in einer homogenen Gruppe. Alle anderen scheinen zu wissen, warum sie hier sind. Sie sind sich ihrer sicher. Einer erzählt von seinem Wochenendausflug an den See. An diesem See war ein anderer auch schon. Ich möchte cool wirken, deshalb verschränke ich die Arme vor der Brust. Und gegen die Worte, die auf mich einprasseln wie kleine Kieselsteine. Vorne steht ein Püppchen in einem schönen Kleid und zeichnet einen lächelnden Schmetterling an die Tafel. Ich schaue an mir herunter. Die Jeans schmutzig, auf dem Sweater ist ein Fleck. Meine Zöpfe haben sich schon auf dem Schulweg fast gelöst, das Haar zu bändigen bleibt eine morgendliche Herausforderung. Mein Heft hat ein Eselsohr, das Buch ist nicht eingeschlagen. Mein Ranzen ist von stechendem Blau und nicht von Scout.

Zur Pause essen alle ihr mitgebrachtes Frühstück. Dazu gibt es wahlweise Kakao oder Milch, die Trinkpäckchen kosten eine Mark fünfzig in der Woche. Ein Mädchen hat ihre Brotdose neben mich auf die Schulbank gelegt. Sie ist rosa mit bunten Punkten. Ich starre auf meine Banane. Ein Buch hat sie an der Seite eingedrückt. Gelblich brauner Matsch dringt wie Eiter aus dem Riss. Lieber hungrig bleiben. Auf der Fensterbank stehen ein paar bunte Blümchen aus Papier. Sie verlassen den Klassenraum nie, bleiben auch nach Schulschluss einsam auf der Fensterbank stehen. Ich finde das traurig. Auf meiner kleinen Schiefertafel stehen noch die Buchstaben vom Vortag. Eine Rüge dafür, dass ich sie nicht weggewischt habe. Es ist nur ein Handgriff, dann sind die Buchstaben weg. Die Rüge bleibt für immer bei mir.

Es war so schwer, groß zu werden. Zu wachsen und zu sich selbst zu werden. Immer so anders, so sonderbar, so eigenartig. So viel Verletzung, so viel Traurigkeit und viel zu wenig geweinte Tränen, die jetzt die Kehle füllen wie einen Kelch.

Der Chaosprinz ist da ganz anders, denke ich stolz, der gehört sich selbst.

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