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45 Tage

Fast wäre der Hund gestern im Gartenteich ertrunken, weil sich die Schleppleine im Busch verfangen hatte. Die Suppenfreundin sprang hinterher und löste das Halsband. Der nasse Hund rubbelt sich am Sofabezug das Fell trocken, bevor er sich mehrfach den Schock aus dem Leib schüttelt.

Und überhaupt war der ganze Tag gestern einer zum Ertrinken. Der Chaosprinz hat montags prinzipiell keine Lust zum Aufstehen. An allen anderen Wochentagen auch nicht, um einem falschen Eindruck vorzubeugen. Die Suppenfreundin hetzt durch den Tag, wie an jedem anderen. Der Hund jagt die Katze, Treppauf, Treppab. Und ich hocke zwischen dem Chaos vor einer Tasse erkaltetem Kaffee und starre ins Nichts, immer in der Hoffnung, es möge sich endlich, endlich, nach so langen Jahren, das Tor in eine andere Dimension auftun, durch das ich schlüpfen und dieser hier entkommen könnte. Aber auch heute bleibt das Nichts einfach nur das Nichts.

Aus der Schule zurück erklärt der Chaosprinz gestern, die Klasse habe heute den Sachkundetest wiederbekommen, alle, nur er nicht. Auf seine Nachfrage teilte ihm die Lehrerin mit, sein Test sei verschwunden. Verschwunden.

Ich reiße ihm die Maske vom blassen Gesicht. Eigentlich hatten wir vereinbart, dass er ab jetzt mit dem Wegfall der Maskenpflicht in Schulen keine mehr trägt. Denn der Chaosprinz vergisst öfter zu trinken und bekommt dann Kopfschmerzen. Weshalb also immer noch die Maske? Der Chaosprinz erklärt, seine Klassenlehrerin habe ihm gesagt, seine Mutter sei doch so krank, er solle die Maske wieder aufsetzen. Schließlich wolle doch niemand, dass seine Mutter noch kränker werde.

Es ist nicht die erste Klassenarbeit, die verschwindet. Nach der dritten Klasse, die der Chaosprinz ausschließlich im Distanzunterricht verbracht hatte, verlangte ich eine Revision des Zeugnisses. Es war mir nicht einleuchtend, dass er in allen schriftlichen Überprüfungen, zu denen er in die Schule fahren musste, zwischen Eins und Zwei stand, alle Hausaufgaben und Zusatzaufgaben ordentlich erledigt und hochgeladen hatte, und trotzdem auf dem Zeugnis eine Drei bekam. Womit wollte man das rechtfertigen? Mit fehlender mündlicher Mitarbeit, teilte die Schule mit. Ich antwortete, dass der Chaosprinz ja aufgrund der Pandemie und meiner gesundheitlichen Situation gar nicht im Unterricht anwesend war. Konnte man ihm dafür eine Sechs in mündlicher Mitarbeit geben? Man versprach, in die schriftlichen Überprüfungen zu schauen. Eine Woche später teilte man mir mit, das sei nicht möglich, da die Mappe mit seinen schriftlichen Überprüfungen nicht aufzufinden sei. Auf dem Zeugnis blieb es bei den Dreien.

Die Maskenpflicht an den Schulen ist also seit den Osterferien freiwillig. Freiwillig scheint ein sehr dehnbarer Begriff zu sein. Der Chaosprinz, der seit er schreiben kann, auf jeden Wunschzettel an den Weihnachtsmann die kurze Nachricht hinterlässt, er möge seine Mama wieder gesund machen. Der Chaosprinz, der zu jedem Neujahr auf seine Wunschliste für das Neue Jahr schreibt, er wünsche sich, dass seine Mutter wieder gesund wird. Der Chaosprinz, der auf die Frage, ob er Angst habe, antwortet, seine Ängste um mich könne er gar nicht beschreiben. Mein Kind also zieht seine Maske wieder auf. Ganz freiwillig natürlich, obwohl wir wissen, dass Masken nicht schützen. Schon gar nicht, wenn in den Schulen nicht mehr getestet wird. Man möchte brechen.

Bezüglich seiner Rucksackdurchsuchung auf der Klassenfahrt teilte die Klassenlehrerin ungegenständlich mit, dass nicht jedes Kind sich an Regeln halte und eine Kontrolle deshalb manchmal notwendig sei. Es sei für den Chaosprinzen aber doch gut ausgegangen, denn es wurde ja nichts bei ihm gefunden. Das beantwortet natürlich meine Frage nicht, weshalb denn nur der Chaosprinz durchsucht wurde, und verstößt überdies auch gegen geltendes Schulrecht, aber ich habe mir ausgerechnet, dass es bis zur weiterführenden Schule noch genau 45 Schultage sind. Und nun setze ich alles daran, diese zu überleben.

Heute schreibt der Chaosprinz eine Mathearbeit. Dafür hätte er gestern noch einmal üben sollen. Der Chaosprinz hatte keinen Bock zu üben. Zum einen, weil ihm Division zur Nase rauskommt. Zum anderen, weil seine Klassenarbeit ja jederzeit wieder verschwinden könnte, sollte sie zu gut ausgefallen sein.

Was wir in der Grundschule alles erleben mussten, ist schon mehrere Dienstaufsichtsbeschwerden wert. Nun weiß man ja, dass solche überhaupt keine Aussicht auf Erfolg haben. An jeder Ecke fehlt es an Lehrern, würde man alle unfähigen entlassen, ließe sich die Schulpflicht nicht mehr aufrecht erhalten. Schon jetzt fallen Stunden aus, werden die Kinder an Selbstlernhefte gesetzt oder auf andere Klassen aufgeteilt, wo sie sich dann eine Schulstunde lang langweilen dürfen. Schulen gleichen immer mehr Materialausgabelagern, gelernt wird ohnehin zu Hause. Das wäre für uns auch absolut in Ordnung. In einer ruhigen Umgebung zu Hause verringern sich nicht nur die Fehler, es ändert sich sogar das Schriftbild.

Nach dem Sommer wechselt der Chaosprinz auf die weiterführende Schule. Sie hat einen recht guten Ruf, ich hoffe also auf Veränderung. Ich hoffe aber auch, mich dort auf etwas transparenterem Terrain wiederzufinden. In der Grundschule haben manche Kinder während der Coronazeit von acht Klassenarbeiten vier gar nicht mehr nachschreiben müssen, sie bekamen auch so eine gute Note. Das nennt man Ermessensspielraum der Lehrer. Ein unglaublich weit gefasster. Denn der Chaosprinz schrieb unterdessen an einem Einzeltisch im Nebenraum in einer Schulstunde zwei Klassenarbeiten nach. Weil er mit Mathe zu schnell fertig war, schob man ihm die Deutscharbeit gleich hinterher. Beide Arbeiten Eins. Auf dem Zeugnis stand eine Drei.

Gedanklich sollte ich mich mit der Schule gar nicht so viel beschäftigen. Denn das gibt nur Ärger und einen hohen Blutdruck. Es ist auch gar nicht nötig, denn ich habe ein sehr kluges Kind, das sich trotz vier Jahre Erniedrigung, Abwertung und Schikane immer noch vor seine Schulbücher setzt. Wäre man mir in der vierten Klasse mit Selbstlernheften gekommen, hätte ich sie in der Regentonne hinterm Haus versenkt.

Mein Entsetzen und meine Hilflosigkeit bezüglich Schule bekomme ich aber einfach nicht in den Griff.

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Gott und die Welt

Der Chaosprinz hat Stress mit seiner neuen Religionslehrerin. Er sagt, sie lasse sie in Religion immer nur nach Vordruck malen, während sie vorne irgend etwas über Gott und die Welt erzählt. Und tatsächlich finde ich in seinem Ranzen die immergleiche Friedenstaube, die er wahlweise mal bunt, mal gemustert und mal in Grautönen ausmalt. Manchen Friedenstauben hat er ein paar Gefährten dazu gemalt, andere lassen Nuklearbomben auf Hochhäuser fallen, von deren Dächern Strichmännchen mit Panzerabwehrraketen auf sie schießen.

Es ist anstrengend dieser Tage. Nächste Woche fährt der Chaosprinz zum ersten Mal für drei Tage auf Klassenfahrt. Als wäre das nicht ausreichend Grund zur Panik, sind bereits Wochen zuvor besondere Vorkehrungen dafür zu treffen. Während nun auch in Deutschland die Pandemiemaßnahmen zurückgefahren werden und in den Schulen keine Maskenpflicht mehr gilt, haben sie die vierten Klassen dazu verdonnert, sich eine Woche vor der Klassenfahrt jeden Tag im Bürgertestzentrum testen zu lassen. Das Testergebnis ist auszudrucken und dem Kind am Folgetag mitzugeben. Ein Wunder, dass es im Land der dreifach ausgefertigten Bürokratie nicht schon viel früher zu Papierknappheit gekommen ist.

Wie heißt deine Religionslehrerin denn, frage ich den Chaosprinzen und denke, vielleicht sollte ich mal mit ihr sprechen. Ihr sagen, dass das Ausmalen von Friedenstaubenausdrucken kein Religionsunterricht ist. Dass man auch Kindern schon mit Ernsthaftigkeit und Begeisterung die Geschichte von Gottes Sohn erzählen kann. Ich könnte ihr sogar Tipps zur Unterrichtsgestaltung geben, nach dem Hausunterricht während der Pandemie, in dem ich mehr Lehrerin als Mutter war, kenne ich mich mittlerweile in der Materie richtig gut aus. Keine Ahnung, sagt der Chaosprinz, ich höre ihr so gut wie nie zu.

Nachts in meinen Träumen bin ich immer öfter wieder ein Schulkind. In den Achtzigern herrscht Kalter Krieg, trotzdem fühle ich mich sicher hinter den Mauern des Klosters auf dem niedrigen Dach, auf dem wir mit den Schwestern Ball spielen. Die Menschen, die ich treffe, sind größer als ich und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in ihre Gesichter zu schauen. Alle Frauen sind Mütter und alle Männer Väter. Meine Lehrer sind wohlwollend und gerecht, sie bemühen sich darum, dass ich verstehe, aber die meiste Zeit weiß ich nicht so genau, was ich da eigentlich tue. Namen kann ich mir schon gar nicht merken.

Ich versuche, zu vermitteln. Na ja, sage ich dem Chaosprinzen, Religionslehrerinnen an der Grundschule, du weißt schon. Das darfst du gar nicht so ernst nehmen, das tun sie nämlich auch nicht. Die sind seltsamerweise in jeder Grundschule gleich. Die sehen sich sogar alle irgendwie ähnlich, kein Wunder also, wenn du dir ihren Namen nicht merken kannst. Und beim nächste Mal, wenn sie dich wegen irgendetwas anranzt, erinnerst du sie daran, dass du orthodoxen Bekenntnisses bist. Das sollte helfen.

In Disenchantment, einer Comicserie, die der Chaosprinz und ich gemeinsam verfolgen, sagten sie einmal, Gott würde nur jedes 25. Gebet erhören. Wir haben darüber gelacht, aber genaugenommen würde das vieles erklären. Ich habe jetzt keine Lust, das zu berechnen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass vor dem Hintergrund unseres Bevölkerungswachstums und des zunehmenden Leids auf diesem Planeten rein stochastisch ein Mensch also sein ganzes Leben lang durchbeten könnte, ohne dass ein einziges Gebet von ihm erhört würde.

Bezüglich seiner Religionslehrerin bleibt der Chaosprinz heute morgen uneinsichtig. Er kann nicht verstehen, dass „erwachsen“ nur eine Frage des biologischen Alters ist und nichts über die persönliche Menschwerdung des einzelnen aussagt. Seiner Ansicht nach dürfen Ungerechtigkeit, Lügen und Ausfälle in der Welt der Erwachsenen gar nicht mehr vorkommen. Er stellt sich das alles anders vor, aber in Wahrheit ist die Welt der Erwachsenen oft auch nur Kindergarten. Es ist nur nicht sozial akzeptiert, darüber zu reden, also thematisiere ich es nicht. Stattdessen einigen wir uns an diesem Morgen darauf, dass er seine Religionslehrerin zukünftig einfach freundlich anlächelt, wenn sie ihm etwas sagt. Sollte sie zwingend eine Antwort von ihm erwarten, so passt „Das ist schön!“ eigentlich für die meisten Gelegenheiten.

Bevor mir die heutige Zeit zum Schreiben ausläuft, muss ich aber dringend noch eine Lanze für die Schule brechen und erwähnen, wie toll die Klassenlehrerin des Chaosprinzen ist. Nach drei Jahren bei einer Lehrerin, die ich gar nicht erst mit Menschen arbeiten lassen würde, habe ich Anfang der vierten Klasse endlich einen Klassenwechsel erreicht und das war ein absoluter Glücksfall, trotz dämlicher Religionslehrerin. Die Klassenlehrerin des Chaosprinzen ist wohlwollend und gerecht, sie ist in ihrer Menschwerdung erwachsen geworden. Seitdem läuft es für den Chaosprinzen und mich deutlich entspannter mit Schule. Vielleicht hat Gott meine Gebete ja doch erhört.

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Schulen im C-Haos

Was im Moment an deutschen Schulen läuft, ist nur noch mit planlosem Durcheinander zu beschreiben. Seit die Einzeltestungen abgeschafft wurden, fehlt die halbe Klasse. Die Lehrer halten tapfer durch und unterrichten sich durch den kläglichen Rest. Übers Wochenende einigt man sich schulintern auf eine Einzeltestung der Kinder im lokalen Bürgertestzentrum vor Schulbeginn am Montag.

Heute früh beim Bürgertest: Ihnen ist das Papier ausgegangen! Ohne ausgedruckten Nachweis darf der Chaosprinz nicht am Unterricht teilnehmen. Er kommt weinend und mit Nasenbluten zurück nach Hause.

Ich bin wütend. Auf die planlose Politik der Krisenverwaltung anstelle einer tragfähigen Strategie in der Pandemielage. Über die Versäumnisse des Schulministeriums, das zweieinhalb Jahre Zeit hatte vernünftige Konzepte vorzulegen, die es ermöglichen sollten, den Präsenzunterricht aufrecht zu erhalten. Und auf das Bürgertestzentrum, das bei dem zu erwartenden Ansturm heute nicht für genug Papier gesorgt hat.
Ich wische dem Prinzen das Blut und den Rotz aus dem Gesicht und setze ihn vor den Onlineunterricht, der direkt aus dem Klassenzimmer übertragen wird.

Böhmermann bezeichnet die Kinder als Pestratten unserer Zeit. Was Satire sein soll, geht voll nach hinten los, seit man das Problem eines sicheren Unterrichts in die Familien zurückgeschoben hat. Die können darüber nämlich gar nicht lachen. Verzweifelt versucht die albanische Mutter, die Vorgaben zu verstehen. Ich versuche zu erklären, was ich davon verstanden habe. Viel ist es nicht.
So ist es einfach nicht zu bewältigen. Dabei ist völlig unerheblich, ob ich verantwortungsvoll mit den Testungen umgehe. Es bleibt eine enorme Unsicherheit, selbst dann noch, wenn alle anderen Eltern ebenso verantwortungsvoll handeln.

Um Absurdistan zu komplementieren, findet Kretschmann, die Virologen sollten sich in der C-Frage doch bitte nicht mehr in die Politik einmischen. Diese Aussage ist in höchstem Maße verstörend, hört man doch seit über zwei Jahren den eindringlichen Appell der Politik an die Bevölkerung, doch bitte auf die Erkenntnisse der Wissenschaft zu vertrauen. Dieser Appell weicht nun offenbar irrationalen Machtspielen und affektierter Rechthaberei unserer Regierenden.

Was ein solches Gezerre anrichtet, scheint Herrn Kretschmann und seinen Kollegen reichlich egal zu sein. Schließlich sei man gewählt worden, um Entscheidungen zu treffen. Dass diese nicht unbedingt vernunftsnah und schon gar nicht hinreichend anwendbar sein müssen, zeigt sich aktuell vor allem dort, wo politische Verantwortung zum Schutz und Wohlergehen der Jüngsten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

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Zeugnistage

Am Morgen vor der Zeugnisausgabe ist der Chaosprinz zum ersten Mal so richtig nervös.

Ein Rückblick:

Zeugnis der ersten Klasse:

Aus der Schule kommen zwei eng bedruckte Blätter Beamtendeutsch. Blocksatz für Blocksatz lese ich mich durch bewertungsreiche Begrifflichkeiten und bürokratische Blähworte. Dann lese ich es nochmal.
„Mama, ist das ein gutes Zeugnis?“ fragt der Chaosprinz.
Ich lese noch einmal.
„Ich weiß es nicht“, antworte ich ehrlich.
Auf meinem eigenen Zeugnis der ersten Klasse steht:
„N. hat sich schnell in die Klassengemeinschaft eingefügt. Sie beteiligt sich lebhaft am Unterricht und konnte durch ihre Fragen häufig Gespräche anregen. N. liest bekannte Texte in Schreib- und Druckschrift und kann kurze Sätze aus der Vorstellung schreiben. Sie erzählt gern und drückt sich dabei gewählt aus. N. kann Aufgaben im Bereich bis 100 meist ohne Hilfe lösen.“
Handgeschrieben.

Zeugnis der zweiten Klasse:

Es sieht aus wie das aus der ersten. Zwei Seiten eng bedruckt, deren zur Kenntnisnahme zu unterschreiben ist. Ich überfliege die vorgefassten Textbausteine. Aus der ersten Klasse weiß ich, dass ich das nicht verstehen kann. Ernst nehmen kann ich es auch nicht. Ich muss es lediglich unterschreiben.
„Und?“ fragt der Chaosprinz „Wie ist denn jetzt mein Zeugnis?“
„Toll!“ sage ich und hefte es in den Kinderordner.

Zeugnis der dritten Klasse, 1. Halbjahr:

Aus der Schule kommen acht (!) Seiten Ankreuzzeugnis. Fein zergliederte Fähigkeitstableaus in „sicher“, „überwiegend“, „wechselnd/teilweise“, „kaum/selten“, „noch nicht“ und „keine Angaben“. Für jedes Fach.
Ich überfliege die Kriterien. Was da alles wichtig scheint. Was da alles nicht drauf steht. Welche Bedeutung hat das alles nun für den Chaosprinzen?
„Wie ist mein Zeugnis?“ fragt er.
„Ach, ganz gut“, antworte ich.

Zeugnis der dritten Klasse, 2. Halbjahr:

Es sind wieder die acht Seiten. Die meisten Kreuzchen wurde einfach aus dem letzten Zeugnis übernommen. Seltsam, wo doch Musik, Kunst, Sport und Religion pandemiebedingt gar nicht stattfanden. Na ja, irgendetwas muss man wohl ankreuzen.
Der Chaosprinz ist tief enttäuscht. Ich lege ihm zum Vergleich meine Zeugnisse vor. Gymnasium, fünfte Klasse, 1. Halbjahr: „Englisch: ausreichend“, „Deutsch: ausreichend“, „Erdkunde: ungenügend“, „Mathe: mangelhaft“.
„Auweia“, sagt der Chaosprinz.
Ich zeige ihm mein Abizeugnis. Mein Unidiplom. Den ersten Arbeitsvertrag.
Er atmet erleichtert auf.

Am Mittag kommt der Chaosprinz aus der Schule.
„Mein Zeugnis ist besser als gedacht“, sagt er, „aber in Kunst hab ich ne Drei.“
Ich versuche, ein ernstes Gesicht zu machen:
„Och Mensch“, sage ich ärgerlich „damit wirst du es wohl kaum in den Louvre schaffen!“

Liebe Eltern,

wenn ihr in den nächsten Tagen die Zeugnisse eurer Kinder anschaut, dann seht sie bitte als das, was sie sind: Subjektive Bewertungen eines Lehrers von in Momenten aufgenommenen Leistungen eures Kindes. Abhängig von Tagesform und persönlichen Vorlieben. Macht euren Kindern bewusst, dass dieselbe Leistung, von vier verschiedenen Lehrern bewertet, vier verschiedene Ergebnisse erwarten lässt.

Eine gute Bildung ist wichtig, keine Frage. Sie macht einen großen Teil des Lebens aus und öffnet die Tore zur Welt. Sie lässt sich aber nicht erzwingen, abfragen oder einfach nur durchziehen. Sie sollte eingebunden sein in ein tieferes Verständnis zur Umwelt und zu sich selbst. Lernen sollte eine gute Erfahrung sein, eine freudige. Neugierde auf die Welt ist jedem Kind in die Wiege gelegt.
Und deshalb ist Bildung, liebe Eltern, nichts, was man lediglich der Schule überlässt.

Die Zwei in Deutsch, die Fünf in Mathe, die Vier in Musik macht eure Kinder nicht schlauer, erfolgreicher oder glücklicher. Sie sagt nichts, rein gar nichts über den Lebensweg aus, den eure Kinder beschreiten werden. Sie sagt noch nicht einmal etwas über die Fähigkeiten eurer Kinder aus. Denn die wesentlichen Fähigkeiten eurer Kinder werden in den Schulen nämlich gar nicht erfasst.

Eure Kinder sind Menschen der Zukunft mit einem großen Potenzial.
Als Mutter wünsche ich mir, dass der Chaosprinz sein Potenzial schulisch aber vor allem persönlich frei entfalten und daran wachsen kann. Dass er sich nicht an anderen sondern immer nur an sich selbst misst und zu einem glücklichen Menschen mit Herz und Verstand wird.

Wir sind nicht mehr Teil der Zukunft unserer Kinder, mahnt Khalil Gibran in seinem Gedicht „Von den Kindern“.
Wir dürfen das Beste für sie wollen.
Was das Beste für sie ist, müssen wir sie aber selbst herausfinden lassen.

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Ratlos

Vor einigen Wochen hat die Regierung eine neue Lollitest Strategie beschlossen. Vor zwei Tagen wurden wegen Überlastung der Labore nun die Einzeltestungen an den Grundschulen wieder abgeschafft. Und pünktlich gestern Abend erhielten zwei vierten Klassen die Benachrichtigung über eine positive Pooltestung. Einzeltestungen seien gestern nicht gemacht worden, so schrieb die Schule, wegen der neuen Teststrategie.

Was ist nun die neue Teststrategie?
Die Schule weiß es nicht. Der Presse erklärte Schulministerin Gebauer gestern, sie werde „kurzfristig einen Vorschlag unterbreiten, um den Schülerinnen und Schülern die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen.“ Wie das nun genau aussehen wird, das weiß Frau Gebauer noch nicht. Im Jahr drei der Pandemie ist sie noch genauso ratlos wie zu Beginn.

Zehn Minuten später schreibt die Schule, die Kinder könnten nun doch zur Schule kommen. Dort würden sie getestet. Sollten sie nicht kommen, würden sie morgen getestet. Alternativ könnte man heute auch einen Bürgertest machen, dann könnten sie morgen auch kommen. Morgen würde dann wieder im Pool getestet.

Für die Parallelklasse gilt diese Regelung übrigens nicht. Sie müssen heute zu Hause bleiben und sich um einen Bürgertest bemühen. Ist der negativ, dürfen die Kinder morgen wieder zur Schule. Es liegt also jetzt im Ermessen des jeweilen Klassenlehrers, eine Strategie zu erfinden, wo keine existiert.

Und während die Inzidenz bald die Tausend erreicht, öffnen die Schulen jeden Morgen ihre Pforten für Millionen ungeimpfter Kinder, für die es keine vernünftige Teststrategie gibt.

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Stiller Morgen

Wenn der Chaosprinz morgens aus dem Haus geht, wird es still.
Es ist noch so dunkel, nur langsam kriecht Licht über den Ölberg, der Himmel ist gemalt. Wenn er geht, kommt das einzige Geräusch vom Kühlschrank und einer Uhr, die irgendwo ihre Sekunden abtickt. Das strahlende Weiß des Monitors brennt in meinen Augen.

Wenn er geht, wird es ruhig. Es ist wie in diesem Lied, es scheint dann keine Sonne, wenn er nicht da ist, und ich falle in eine Starre. Wie Spinnen, die in den Ecken hocken, bewegungslos auf ihre Beute warten, ihnen wird nicht langweilig. Ich hätte, hätte so viel zu tun. Es müsste, müsste so viel erledigt werden. Doch wenn er weg ist, dann warte ich, mir wird nicht langweilig. Um mich herum bewegt sich die Welt. Der Kater stolziert selbstbewusst aus dem Keller, weil die Suppenfreundin mit dem Hund unterwegs ist. Der erste Vogel fliegt am Fenster vorbei.
Als sei ich nicht, wenn er weg ist. Als werde ich erst wieder, wenn er mich braucht.
Was war ich, bevor der Chaosprinz über mein Leben brach. Ziellos ließ ich die Straßen links und rechts an mir vorbeiziehen. Ich passierte Plätze und Gebäude und fand doch keinen Ort, mich für einen Moment auszuruhen. In der Masse meiner Generation trieb ich durch die Schule und das Studium, nahm eine Arbeit auf, lebte an meinem Leben vorbei. Am Ende einer dieser Straßen wartete er geduldig auf mich. Er wusste, ich würde kommen, und ich wusste es auch.

Wenn der Chaosprinz morgens zur Schule geht, gehe ich in Gedanken jeden Schritt mit. Ich weiß, wie lange er braucht, um den Schulhof zu erreichen, welchen Gang er zur Treppe und welche Treppe er zum Klassenzimmer nehmen muss. Wenn er in der Klasse sitzt und es klingelt, stelle ich mir vor, wie er seinen Ranzen öffnet und seine Schulbücher hervorholt. In der ersten Stunde hat er Mathe. Heute machen sie die schriftliche Division. Da macht ihm keiner was vor.

Ich sehe mich in der Klasse sitzen, unsicher, weil alle anderen besser zu sein scheinen als ich. Ich sehe mich und fühle mich wie ein Fremdkörper in einer homogenen Gruppe. Alle anderen scheinen zu wissen, warum sie hier sind. Sie sind sich ihrer sicher. Einer erzählt von seinem Wochenendausflug an den See. An diesem See war ein anderer auch schon. Ich möchte cool wirken, deshalb verschränke ich die Arme vor der Brust. Und gegen die Worte, die auf mich einprasseln wie kleine Kieselsteine. Vorne steht ein Püppchen in einem schönen Kleid und zeichnet einen lächelnden Schmetterling an die Tafel. Ich schaue an mir herunter. Die Jeans schmutzig, auf dem Sweater ist ein Fleck. Meine Zöpfe haben sich schon auf dem Schulweg fast gelöst, das Haar zu bändigen bleibt eine morgendliche Herausforderung. Mein Heft hat ein Eselsohr, das Buch ist nicht eingeschlagen. Mein Ranzen ist von stechendem Blau und nicht von Scout.

Zur Pause essen alle ihr mitgebrachtes Frühstück. Dazu gibt es wahlweise Kakao oder Milch, die Trinkpäckchen kosten eine Mark fünfzig in der Woche. Ein Mädchen hat ihre Brotdose neben mich auf die Schulbank gelegt. Sie ist rosa mit bunten Punkten. Ich starre auf meine Banane. Ein Buch hat sie an der Seite eingedrückt. Gelblich brauner Matsch dringt wie Eiter aus dem Riss. Lieber hungrig bleiben. Auf der Fensterbank stehen ein paar bunte Blümchen aus Papier. Sie verlassen den Klassenraum nie, bleiben auch nach Schulschluss einsam auf der Fensterbank stehen. Ich finde das traurig. Auf meiner kleinen Schiefertafel stehen noch die Buchstaben vom Vortag. Eine Rüge dafür, dass ich sie nicht weggewischt habe. Es ist nur ein Handgriff, dann sind die Buchstaben weg. Die Rüge bleibt für immer bei mir.

Es war so schwer, groß zu werden. Zu wachsen und zu sich selbst zu werden. Immer so anders, so sonderbar, so eigenartig. So viel Verletzung, so viel Traurigkeit und viel zu wenig geweinte Tränen, die jetzt die Kehle füllen wie einen Kelch.

Der Chaosprinz ist da ganz anders, denke ich stolz, der gehört sich selbst.

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