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Zeugnistage

Am Morgen vor der Zeugnisausgabe ist der Chaosprinz zum ersten Mal so richtig nervös.

Ein Rückblick:

Zeugnis der ersten Klasse:

Aus der Schule kommen zwei eng bedruckte Blätter Beamtendeutsch. Blocksatz für Blocksatz lese ich mich durch bewertungsreiche Begrifflichkeiten und bürokratische Blähworte. Dann lese ich es nochmal.
„Mama, ist das ein gutes Zeugnis?“ fragt der Chaosprinz.
Ich lese noch einmal.
„Ich weiß es nicht“, antworte ich ehrlich.
Auf meinem eigenen Zeugnis der ersten Klasse steht:
„N. hat sich schnell in die Klassengemeinschaft eingefügt. Sie beteiligt sich lebhaft am Unterricht und konnte durch ihre Fragen häufig Gespräche anregen. N. liest bekannte Texte in Schreib- und Druckschrift und kann kurze Sätze aus der Vorstellung schreiben. Sie erzählt gern und drückt sich dabei gewählt aus. N. kann Aufgaben im Bereich bis 100 meist ohne Hilfe lösen.“
Handgeschrieben.

Zeugnis der zweiten Klasse:

Es sieht aus wie das aus der ersten. Zwei Seiten eng bedruckt, deren zur Kenntnisnahme zu unterschreiben ist. Ich überfliege die vorgefassten Textbausteine. Aus der ersten Klasse weiß ich, dass ich das nicht verstehen kann. Ernst nehmen kann ich es auch nicht. Ich muss es lediglich unterschreiben.
„Und?“ fragt der Chaosprinz „Wie ist denn jetzt mein Zeugnis?“
„Toll!“ sage ich und hefte es in den Kinderordner.

Zeugnis der dritten Klasse, 1. Halbjahr:

Aus der Schule kommen acht (!) Seiten Ankreuzzeugnis. Fein zergliederte Fähigkeitstableaus in „sicher“, „überwiegend“, „wechselnd/teilweise“, „kaum/selten“, „noch nicht“ und „keine Angaben“. Für jedes Fach.
Ich überfliege die Kriterien. Was da alles wichtig scheint. Was da alles nicht drauf steht. Welche Bedeutung hat das alles nun für den Chaosprinzen?
„Wie ist mein Zeugnis?“ fragt er.
„Ach, ganz gut“, antworte ich.

Zeugnis der dritten Klasse, 2. Halbjahr:

Es sind wieder die acht Seiten. Die meisten Kreuzchen wurde einfach aus dem letzten Zeugnis übernommen. Seltsam, wo doch Musik, Kunst, Sport und Religion pandemiebedingt gar nicht stattfanden. Na ja, irgendetwas muss man wohl ankreuzen.
Der Chaosprinz ist tief enttäuscht. Ich lege ihm zum Vergleich meine Zeugnisse vor. Gymnasium, fünfte Klasse, 1. Halbjahr: „Englisch: ausreichend“, „Deutsch: ausreichend“, „Erdkunde: ungenügend“, „Mathe: mangelhaft“.
„Auweia“, sagt der Chaosprinz.
Ich zeige ihm mein Abizeugnis. Mein Unidiplom. Den ersten Arbeitsvertrag.
Er atmet erleichtert auf.

Am Mittag kommt der Chaosprinz aus der Schule.
„Mein Zeugnis ist besser als gedacht“, sagt er, „aber in Kunst hab ich ne Drei.“
Ich versuche, ein ernstes Gesicht zu machen:
„Och Mensch“, sage ich ärgerlich „damit wirst du es wohl kaum in den Louvre schaffen!“

Liebe Eltern,

wenn ihr in den nächsten Tagen die Zeugnisse eurer Kinder anschaut, dann seht sie bitte als das, was sie sind: Subjektive Bewertungen eines Lehrers von in Momenten aufgenommenen Leistungen eures Kindes. Abhängig von Tagesform und persönlichen Vorlieben. Macht euren Kindern bewusst, dass dieselbe Leistung, von vier verschiedenen Lehrern bewertet, vier verschiedene Ergebnisse erwarten lässt.

Eine gute Bildung ist wichtig, keine Frage. Sie macht einen großen Teil des Lebens aus und öffnet die Tore zur Welt. Sie lässt sich aber nicht erzwingen, abfragen oder einfach nur durchziehen. Sie sollte eingebunden sein in ein tieferes Verständnis zur Umwelt und zu sich selbst. Lernen sollte eine gute Erfahrung sein, eine freudige. Neugierde auf die Welt ist jedem Kind in die Wiege gelegt.
Und deshalb ist Bildung, liebe Eltern, nichts, was man lediglich der Schule überlässt.

Die Zwei in Deutsch, die Fünf in Mathe, die Vier in Musik macht eure Kinder nicht schlauer, erfolgreicher oder glücklicher. Sie sagt nichts, rein gar nichts über den Lebensweg aus, den eure Kinder beschreiten werden. Sie sagt noch nicht einmal etwas über die Fähigkeiten eurer Kinder aus. Denn die wesentlichen Fähigkeiten eurer Kinder werden in den Schulen nämlich gar nicht erfasst.

Eure Kinder sind Menschen der Zukunft mit einem großen Potenzial.
Als Mutter wünsche ich mir, dass der Chaosprinz sein Potenzial schulisch aber vor allem persönlich frei entfalten und daran wachsen kann. Dass er sich nicht an anderen sondern immer nur an sich selbst misst und zu einem glücklichen Menschen mit Herz und Verstand wird.

Wir sind nicht mehr Teil der Zukunft unserer Kinder, mahnt Khalil Gibran in seinem Gedicht „Von den Kindern“.
Wir dürfen das Beste für sie wollen.
Was das Beste für sie ist, müssen wir sie aber selbst herausfinden lassen.

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