Durchhalten

Und so schleppen wir uns durch die Woche: der Wecker klingelt um halb Sieben, der Chaosprinz sitzt um Sieben stumm und missmutig vor seinem Kakao, um halb Acht richte ich seinen Kragen, gebe ihm einen Kuss und sage ihm, er soll sein Bestes geben. Welchen Wochentag haben wir?, fragt er, dann geht er los. Vom Küchenfenster aus sehe ich ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden ist. Mein Magen friert zu.

Die Lehrerin schreibt, sie habe mit der Sachkundelehrerin gesprochen. Die Arbeit des Chaosprinzen läge ihr vor. Die Lehrerin wisse nun gar nicht, wie der Eindruck entstanden sein könnte, die Arbeit sei verschwunden. Ich überlege kurz, ob ich zurückschreibe, der „Eindruck“ sei daraus „entstanden“, dass die Sachkundelehrerin am Montag behauptet hatte, der Chaosprinz habe ihr die Arbeit nicht abgegeben. Ich überlege kurz, ob ich zurückschreibe, die Worte „Eindruck“ und „entstanden“ seien in diesem Zusammenhang von ihr mehr als unzutreffend gewählt. Nur kurz überlege ich das, dann entscheide ich, mich für die Nachricht zu bedanken und es gut sein zu lassen. Für ein klärendes Gespräch sind ein Mindestmaß an Wahrheit, eine Untergrenze an intelligenter Eloquenz und ein Minimum an persönlicher Einsicht zwingend erforderlich, und meine Erfahrung über die letzten vier Jahre hat gezeigt, dass das alles in der Grundschule nicht als selbstverständlich vorauszusetzen ist. Außerdem haben der Chaosprinz, die Suppenfreundin und ich uns vor einigen Tagen für einen familiären Schulterschluss entschieden und geschlossen der Grundschule unsere innere Kündigung ausgesprochen.

Und so geht es weiter: jeden Tag nehme ich mir vor, ein paar Sätze zu schreiben. Ich öffne das Dokument und sehe die Fragmente vom Vortag, kleine Satzinseln auf dem Monitor. Eine Geschichte, die in meinem Kopf längst erzählt ist, einfaltet sich in feinen Linien. Jeden Tag füge ich dem Dokument einige Zeilen hinzu, so wächst ein unregelmäßig gestrickter Körper, unförmig und unbehaglich. Im kreativen Prozess des Denkens trete ich zurück, als würde ich mich darin verstecken können. Die Ideen flimmern durch den Raum, Gedanken, bei denen ich mich seit jeher frage, ob sie mir allein gehören oder eher den Untiefen des kollektiven Unbewussten entstammen. Im Hintergrund läuft das Radio, damit die Stille mich nicht beherrscht.

Stille kann sehr einschüchternd sein. In einer Kontroverse hat meist derjenige Gesprächspartner einen Vorteil, der die Stille angemessen einsetzen und entsprechend auch gut aushalten kann. In der Verhandlungstechnik nennt man das taktisches Schweigen. Es bringt einen ganzen Schneesturm über die Gesamtlage und verteilt die Positionen oft völlig neu.
Ich kann Stille ganz grundsätzlich nur sehr schlecht ertragen. In einem Gespräch versuche ich, sie nicht aufkommen zu lassen. Selbst dann nicht, wenn ich dafür ununterbrochen reden muss. Das kann sehr anstrengend sein, weshalb ich auch nur ungern Besuch bekomme. Wenn die Stille dann aber doch unvermeidbar wird, weil die Worte plötzlich ausgehen, gestehe ich meine Niederlage ein und kapituliere widerstandslos.
Die Suppenfreundin verfolgt eine völlig gegensätzliche Taktik, um die Stille zu vermeiden. Sie stellt Fragen. Und zwar solche, deren ausführlicher Beantwortung kaum jemand widerstehen kann. Wie es den Kindern gehe, ist hier sehr beliebt, wobei es in ihrer Generation mittlerweile die Enkelkinder sind, über die beinahe jeder erfreut und umfassend berichtet. Die Stille ist damit vom Tisch, und alles, was die Suppenfreundin dann noch tun muss, ist interessiert vertiefende Fragen zu stellen.

Und dann geschieht das: wenn der Chaosprinz mittags aus der Schule kommt, seinen Schulranzen in die Ecke schleudert, die Schuhe abstreift und sich vor seinen dampfenden Teller setzt, beginnt der Eisblock in meinem Magen langsam zu tauen. Lachend berichtet er davon, wie Sonja sich eine Strähne ihres Haars mit Flüssigglitzer verklebt hat und Andreas daraufhin zur Schere griff. Wie Michael sich mit Johannes eine Rindenmulchschlacht auf dem Schulhof geliefert hat. Und wie er in der sechsten Stunde in die Parallelklasse geschickt wurde, um dort seine Hausaufgaben zu machen, weil mal wieder kein Lehrer zur Verfügung stand.
Manchmal fläzen wir uns dann dekadent und wenig dekorativ gemeinsam auf die Sofas im Wohnzimmer und bleiben dort liegen, bis der Abend kommt. Oder die Suppenfreundin, je nachdem, was zuerst eintritt. Bei Keksen, Chips und Gummibärchen tun wir das, was wir gerade tun wollen. Ich lese in einem Buch, der Chaosprinz klickt sich durch Youtubevideos und sucht nach neuen Anregungen für seine sorgfältig geplante Pizzeria.
Und für den Moment ist alles gut.

Werbung

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter Uncategorized

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s